Im Schatten der Gerechtigkeit
innerhalb weniger Wochen wieder völlig hergestellt.«
»Denken Sie? Denken Sie wirklich?« Prendergast lächelte schwach. »Ich komme mir furchtbar krank vor.«
»Das ist ganz natürlich. Aber das geht vorbei, das versichere ich Ihnen. Jetzt muß ich mich um meine anderen Patienten kümmern. Die Schwestern werden für Sie sorgen. Guten Tag, Sir.« Mit einem knappen Nicken an Hesters Adresse verließ er den Raum und schritt, Kopf hoch, Schultern zurückgenommen, den Korridor hinauf.
Als man sie ablöste, ging auch Hester. Sie hatte kaum die Hälfte des Wegs zum Schlafsaal der Schwestern zurückgelegt, als sie der imposanten Gestalt von Berenice Ross Gilbert begegnete. In einem gesellschaftlichen Rahmen hätte sie sich Lady Ross Gilbert jederzeit ebenbürtig gefühlt – auch wenn letztere diese Meinung vielleicht nicht geteilt hätte; in ihrer grauen Schwesterntracht und angesichts der Tatsache, daß ihr Beruf bekannt war, sah sie sich jedoch im Nachteil, und so war ihr nicht ganz wohl in ihrer Haut.
Berenice war prächtig gekleidet wie immer, ihr Kleid eine Mischung aus Rosttönen und Gold mit einem Hauch Fuchsienrot, der Schnitt nach dem letzten Schrei. Sie lächelte mit beiläufigem Charme, sah jedoch durch Hester hindurch und ging ihres Wegs. Sie war kaum einige Schritte weiter, als Sir Herbert aus einer der Türen trat.
»Äh!« sagte er rasch, und sein Gesicht hellte sich auf. »Ich hatte darauf gehofft… «
»Guten Morgen, Sir Herbert«, fiel Berenice ihm ins Wort, ihre Stimme scharf und etwas zu laut. »Ein weiterer schöner Tag. Wie geht es Mr. Prendergast? Wie ich höre, verlief die Operation gut. Was übrigens ausgezeichnet für den Ruf des Hauses ist, von der englischen Medizin allgemein ganz zu schweigen. Wie hat er denn die Nacht verbracht?«
Sir Herbert war etwas erstaunt. Er stand mit dem Profil zu Hester, die er im Schatten nicht bemerkt hatte. Sie war eine Krankenschwester und somit bis zu einem gewissen Grad unsichtbar, wie ein guter Domestik.
Sir Herberts Brauen hoben sich, seine Überraschung ganz offensichtlich. »Ja, dem geht es soweit ausgezeichnet«, antwortete er. »Aber zu diesem Zeitpunkt will das noch nichts besagen. Ich wußte nicht, daß Sie mit Mr. Prendergast bekannt sind.«
»Nein, nein, mein Interesse ist keineswegs persönlicher Natur.«
»Ich wollte eben sagen, daß ich…«, begann er aufs neue.
»Und natürlich«, fiel sie ihm aufs neue ins Wort, »geht es mir um den Ruf des Hauses und Ihre Verbindung damit, Sir Herbert.« Sie lächelte starr. »Da ist natürlich diese unsägliche Geschichte mit dieser armen Schwester – wie immer sie hieß!«
»Barrymore? Also, wirklich Berenice…«
»Ja, natürlich, Barrymore. Aber wie ich höre, haben wir ja eine neue Krimschwester – Miss, äh…« Sie wandte sich etwas zur Seite, um ihm Hester zu zeigen.
»Äh – ja.« Sir Herbert schien verwirrt und leicht aus der Fassung geraten. »Ja – eine ausgesprochen glückliche Anschaffung, bis jetzt. Eine sehr kompetente junge Frau. Ich danke Ihnen für Ihre freundlichen Worte, Lady Ross Gilbert.« Unbewußt zupfte er sich das Jackett zurecht. »Ausgesprochen großzügig von Ihnen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muß mich noch um andere Patienten kümmern. Charmant, Sie getroffen zu haben!«
Berenice lächelte freudlos. »Aber selbstverständlich. Guten Morgen, Sir Herbert.«
Hester legte schließlich den Rest des Wegs in den Schlafsaal zurück, um sich ein, zwei Stunden Schlaf zu gönnen. Sie war müde genug, um selbst bei dem ständigen Kommen und Gehen, dem Hin und Her und dem Geplapper der andern einzuschlafen. Nicht, daß sie sich nicht etwas Privatsphäre gewünscht hätte. Sie sehnte sich nach der Ruhe ihres kleinen Zimmers, das ihr früher nie wie ein Zufluchtsort erschienen war, aber da hatte sie es auch noch mit dem väterlichen Zuhause verglichen, mit seiner Geräumigkeit, seiner Wärme und der vertrauten Eleganz.
Sie hatte noch nicht allzu lange geschlafen, da fuhr sie hoch und versuchte sich fieberhaft einen Eindruck ins Gedächtnis zu rufen. Er war wichtig und bedeutete etwas, aber es gelang ihr nicht, ihn zu fassen.
Eine ältere Schwester mit einem Fleck an der Schläfe stand einige Schritte vor ihrem Bett und starrte sie an.
»Der eine von der Schmier’ will was von Ihnen«, sagte sie ausdruckslos. »Der mit den Frettchenaugen. Passen Sie mal bloß auf bei dem. Dem versuchen Sie mal besser nichts zu erzählen.« Und nachdem sie ihre
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