Im Schatten der Gerechtigkeit
war, darauf zu achten, ob seine Haut klamm wurde, ob er zu fiebern oder sein Puls schwächer zu werden begann.
Mehrere Male steckte Mrs. Flaherty den Kopf in das kleine Zimmer, in dem sie war, und erst beim dritten dieser Besuche erfuhr Hester den Namen des Patienten.
»Wie geht es Mr. Prendergast denn?« fragte Mrs. Flaherty mit gefurchter Stirn. Ihr Blick fiel auf den Eimer, über den Hester ein Tuch gelegt hatte. Was sie natürlich nicht unkommentiert lassen konnte. »Ich nehme an, der ist leer, Miss Latterly?«
»Nein, er hat sich erbrochen«, antwortete Hester.
Mrs. Flahertys weiße Brauen hoben sich. »Ich dachte, Ihr Krimschwestern wärt diejenigen, die so darauf bedacht sind, in der Nähe der Patienten keine Ausscheidungen herumstehen zu lassen? Sie halten wohl nichts davon, nach den eigenen Grundsätzen zu handeln, was?«
Hester atmete tief durch und dachte wieder an den Grund ihrer Anwesenheit. »Ich hielt es für das kleinere Übel«, antwortete sie und wagte dabei nicht, Mrs. Flahertys eisigem blauen Blick zu begegnen; sie befürchtete, sie könnte ihr ihre Wut ansehen. »Ich fürchte, er hat ziemliche Schmerzen, und wenn ich nicht hier bin, reißt er sich womöglich die Naht auf, falls er sich wieder erbricht. Dazu kommt, daß ich nur einen Eimer habe, und es ist allemal besser, als das Bett zu verunreinigen.«
Mrs. Flaherty bedachte sie mit einem frostigen Lächeln.
»Gesunden Menschenverstand haben Sie ja, wie ich sehe. Ist auch viel nützlicher als alle Bildung der Welt. Vielleicht machen wir ja noch eine vernünftige Schwester aus Ihnen, was ich nun wirklich nicht von jeder von eurer Sorte behaupten möchte.« Und noch bevor Hester zurückschlagen konnte, fuhr sie hastig fort. »Fiebert er? Was macht der Puls? Haben Sie nach der Wunde gesehen? Blutet er?«
Hester gab ihr bereitwillig Auskunft und wollte eben nach einer Ablösung fragen, damit sie zum Essen käme – sie war, seit Sir Herbert sie hatte rufen lassen, noch nicht einmal zu einem Schluck Wasser gekommen –, aber Mrs. Flaherty tat verhalten ihre Befriedigung kund und rauschte mit rasselnden Schlüsseln und klappernden Absätzen hinaus.
Vielleicht tat sie ihr Unrecht, aber Hester war der Ansicht, daß Mrs. Flaherty sehr wohl wußte, wie lange sie nun schon hier war, ohne länger abgelöst worden zu sein, als um ihren natürlichen Bedürfnissen Folge leisten zu können. Und daß sie eine gewisse Befriedigung daraus zog.
Etwa gegen zehn Uhr abends kam eine der jüngeren Schwestern herein, eine von denen, die Prudence verehrt hatten, und brachte einen Becher Tee und ein dickes Hammelsandwich. Rasch schloß sie die Tür hinter sich und hielt ihr beides hin.
»Sie müssen doch schon nach einem Bissen lechzen«, sagte sie mit leuchtenden Augen.
»Ich habe einen Bärenhunger«, gestand Hester dankbar. »Ich danke Ihnen vielmals.«
»Wie geht es ihm denn?« fragte die Schwester. Sie war etwa zwanzig, hatte braunes Haar und ein sanftes, eifriges Gesicht.
»Er hat Schmerzen«, antwortete Hester mit vollem Mund.
»Aber sein Puls ist noch kräftig, also hoffe ich, daß er kein Blut verliert.«
»Der arme Mann. Aber Sir Herbert ist ein wunderbarer Chirurg, nicht wahr?«
»Ja«, meinte Hester aufrichtig. »Er ist wirklich brillant.« Obwohl er zu heiß war, nahm sie einen großen Schluck von dem Tee.
»Waren Sie auch auf der Krim?« fuhr die Schwester mit vor Begeisterung strahlender Miene fort. »Haben Sie die arme Schwester Barrymore gekannt? Und Miss Nightingale?« Ihre Stimme wurde vor Ehrfurcht vor dem großen Namen ganz leise.
»Ja«, sagte Hester, leicht belustigt. »Ich habe sie beide gekannt. Und Mary Seacole.«
Das Mädchen war verwirrt. »Wer ist Mary Seacole?«
»Eine der besten Frauen, die ich je gekannt habe«, antwortete Hester und wußte, daß hinter ihrer Antwort neben dem puren Eigensinn auch die Wahrheit stand. So tief ihre Bewunderung für Florence Nightingale und die anderen Frauen von der Krim auch war, sie hatte so viel Lob für die meisten von ihnen gehört und nie auch nur ein Wort über die schwarze Jamaikanerin, die mit nicht weniger Selbstlosigkeit und Fleiß gedient hatte. Mary Seacole hatte eine Pension für Kranke, Verletzte und Verängstigte geleitet, sie hatte ihre eigenen Fieberkuren verabreicht, die sie in den Gelbfiebergebieten ihrer westindischen Heimat gelernt hatte.
Neugierde belebte das Gesicht des Mädchens. »Oh? Ich habe noch nie von ihr gehört. Warum nicht? Wieso weiß keiner was von
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