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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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lassen. Nicht wütend, aber ärgerlich.«
    Sie sah Hester beunruhigt an. »Glauben Sie, der könnte es gewesen sein? Wie ein Verrückter sah der nicht aus. Eigentlich richtig nett. Wie der Bruder von jemandem, wenn Sie wissen, was ich meine? Wahrscheinlich wollte er einen Patienten besuchen und durfte nicht rein. So was kommt schon mal vor, vor allem wenn die Leute zur falschen Zeit kommen.«
    »Wahrscheinlich«, stimmte Hester ihr zu. »War das bevor oder nachdem Sie Prudence gesehen hatten?«
    »Vorher. Aber er hätte ja durchaus warten können, oder?«
    »Ja – wenn er sie überhaupt gekannt hat.«
    »Scheint mir nicht sehr wahrscheinlich, oder?« sagte das Mädchen unglücklich. »Also, ich nehme an, es war keiner von uns. Mrs. Flaherty und sie lagen sich ständig in den Haaren. Erst vorige Woche hat Mrs. Flaherty geschworen, entweder würde sie gehen oder Prudence. Ich nehme an, es war bloß so dahingesagt, im Zorn, aber vielleicht hat sie’s ja doch ernst gemeint.« Sie sah Hester fast schon hoffnungsvoll an.
    »Aber Sie haben doch gesagt, Sie hätten Prudence nach dem Streit noch gesehen und daß Mrs. Flaherty danach für mindestens eine Stunde im Schlafsaal war!« erklärte Hester.
    »Oh – ja, stimmt. Dann kann sie’s wohl nicht gewesen sein.« Sie sah ein bißchen enttäuscht aus. »Nicht daß ich wirklich gedacht hätte, daß sie’s gewesen ist, auch wenn sie Prudence wirklich gehaßt hat. Aber da war sie nicht die einzige!«
    Der Patient bewegte sich wieder, und sie sahen ihn schweigend an, aber nach einem verhaltenen Stöhnen schlief er wieder ruhig weiter.
    »Wer denn noch?« gab Hester ihr das Stichwort.
    »Richtig gehaßt? Na, ich nehme an Dora Parsons. Aber die wünscht ja eine ganze Menge Leute zum Teufel. Stark genug ist sie, um einem den Hals umzudrehen. Haben Sie ihre Arme gesehen?«
    »Ja«, gab Hester schaudernd zu. Aber so sehr sie Dora Parsons fürchtete, sie hatte eher Angst, verletzt zu werden als umgebracht. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß die Abneigung gegen eine Frau, die sich für etwas Besseres zu halten schien und deren Ambitionen sie als arrogant und verfehlt betrachtete, Motiv für einen Mord sein sollte. Nicht für eine geistig gesunde Person. Und Dora Parsons war bei aller Grobheit eine annehmbare Schwester, rauh, aber nicht grausam, und durchaus geduldig mit den Patienten. Je mehr Hester darüber nachdachte, desto weniger konnte sie sich vorstellen, daß Dora Prudence aus purem Haß umgebracht haben sollte.
    »Ja, ich bin sicher, daß sie die Kraft dazu hatte«, fuhr sie fort.
    »Aber keinen Grund.«
    »Wahrscheinlich nicht.« Es hörte sich an, als widerstrebe es ihr, aber sie lächelte, als sie es sagte. »Und ich gehe jetzt mal besser, bevor Mrs. Flaherty zurückkommt und mich erwischt. Soll ich den Eimer für Sie ausleeren?«
    »O ja, bitte. Und danke für Sandwich und Tee.«
    Das Mädchen zeigte ihr ein strahlendes Lächeln, errötete dann, nahm den Eimer und verschwand.
    Es war eine lange Nacht, und Hester tat kaum ein Auge zu. Ihr Patient döste unruhig, sich seiner Schmerzen die ganze Zeit über bewußt, aber als es Tag wurde, kurz vor vier Uhr morgens, war sein Puls kräftig und sein Fieber kaum der Rede wert. Hester war müde, aber zufrieden, und als um halb acht Sir Herbert kam, erstattete sie ihren Bericht mit einem gewissen Stolz.
    »Ausgezeichnet, Miss Latterly.« Er faßte sich kurz und achtete darauf, daß Prendergast ihn nicht hörte, obwohl dieser kaum richtig wach war. »Ganz ausgezeichnet. Aber wir sind noch nicht über den Berg.« Er sah ihn unschlüssig an, wobei er die Unterlippe vorschob.» Er kann während der nächsten sieben oder acht Tage jederzeit zu fiebern beginnen, und das könnte durchaus tödlich sein. Ich möchte, daß Sie jede Nacht bei ihm bleiben. Tagsüber kann sich Mrs. Flaherty um ihn kümmern.« Er ignorierte sie vorübergehend, während er den Patienten untersuchte, und sie trat beiseite und wartete. Seine Konzentration war absolut; die Brauen gehoben, die Augen hellwach, hantierte er sachte und geschickt. Er stellte die eine oder andere Frage, mehr um sich Prendergasts Aufmerksamkeit zu versichern, als um der Information willen; auch als Prendergast, die Augen noch tief in den Höhlen von Operationstrauma und Blutverlust, nur wenige zusammenhängende Antworten gab, machte ihm das keinerlei Sorgen.
    »Sehr gut«, sagte Sir Herbert schließlich und trat zurück. »Sie machen ausgezeichnete Fortschritte, Sir. Ich denke, Sie sind

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