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Im Schatten der Gerechtigkeit

Im Schatten der Gerechtigkeit

Titel: Im Schatten der Gerechtigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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richtig zu erinnern. Der Patient warf sich unruhig von einer Seite auf die andere. Hester richtete ihm das Kissen. Mehr konnte sie nicht für ihn tun.
    »Also, Sir Herbert war am Tag zuvor hier«, erzählte das Mädchen. »Natürlich. Aber nicht in der Nacht.« Den Blick nach innen gerichtet, sah sie an die Decke. »Er bleibt selten die ganze Nacht hier. Er ist natürlich verheiratet. Und seine Frau soll eine sehr nette Person sein. Und sieben Kinder hat er. Und natürlich ist er ein richtiger Gentleman, nicht wie Dr. Beck, ich meine, der ist Ausländer, und das ist ja wohl was anderes, nicht wahr? Nicht daß er nicht furchtbar nett wäre und immer höflich. Noch nie habe ich von ihm ein grobes Wort gehört. Er ist ziemlich oft die Nacht über hier, wenn er einen Patienten hat, dem es wirklich schlechtgeht. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
    »Und die anderen Ärzte?«
    »Dr. Chalmers war nicht da. Der kommt normalerweise immer erst nachmittags. Vormittags arbeitet der woanders. Dr. Didcot war in Glasgow. Und falls Sie die Studenten meinen, die kommen selten vor neun.« Sie zog ein Gesicht. »Wenn Sie sie fragen, dann sagen sie, sie haben studiert oder so was in der Art, aber ich hab’ da so meine eigenen Ansichten.« Sie ließ ein höchst ausdrucksvolles kleines Schnauben hören.
    »Und die Schwestern? Ich nehme an, daß auch Schwestern Fehler machen können«, führte Hester die Sache zu Ende. »Was ist mit Mrs. Flaherty?«
    »Mrs. Flaherty?« Entsetzt und belustigt zugleich hob das Mädchen die Brauen. »Ach du meine Güte! An die hab’ ich überhaupt nicht gedacht. Also – die und Prudence, die konnten sich nun wirklich nicht leiden.« Ein kleiner Schauer überlief sie.
    »Ich denke, die hätten sich beide ganz schön gefreut, die andere bei einem Fehler zu erwischen. Aber Mrs. Flaherty ist doch so furchtbar klein. Prudence war groß, sechs, sieben Zentimeter größer als Sie, würde ich sagen, und eine gute Spanne größer als Mrs. Flaherty.«
    Hester war etwas enttäuscht. »War sie denn hier?«
    »O ja, hier war sie schon.« Eine gewisse Häme ließ ihr Gesicht aufleuchten, worüber sie sich jedoch sofort schämte.
    »Daran erinnere ich mich noch genau, weil ich mit ihr zusammen war!«
    »Wo denn?«
    »Im Schlafsaal der Schwestern. Sie hat ihnen die Leviten gelesen, daß ihnen Hören und Sehen verging.« Sie blickte Hester an, um zu sehen, wie weit sie sich in ihrer Aufrichtigkeit wagen könnte. Als sie Hesters Blick begegnete, vergaß sie jede Vorsicht. »Über eine Stunde war sie da und hat alles inspiziert, was ihr unter die Finger kam. Ich weiß, daß sie sich vorher mit Prudence gestritten hatte, weil ich Prudence weggehen sah. Und Mrs. Flaherty ist los, um ihren Zorn an den Schwestern auszulassen. Ich denke, die müssen sich fürchterlich in die Wolle gekriegt haben.«
    »Sie haben Prudence an jenem Morgen gesehen?« Hester versuchte ihrer Stimme die Dringlichkeit zu nehmen.
    »Aber ja«, sagte sie entschieden.
    »Wissen Sie auch wann?«
    »So gegen halb sieben.«
    »Dann müssen Sie eine der letzten gewesen sein, die sie lebend gesehen haben.« Sie sah, wie das Mädchen blaß wurde; Traurigkeit legte sich über ihr junges Gesicht. »Hat die Polizei Sie danach gefragt?«
    »Na ja, nicht wirklich. Sie haben gefragt, ob ich Dr. Beck und Sir Herbert gesehen hätte.«
    »Und, haben Sie?«
    »Dr. Beck habe ich gesehen, auf dem Korridor zu den Stationen. Sie haben mich gefragt, was er gemacht und wie er ausgesehen hat. Er ist ganz einfach gegangen, und ausgesehen hat er schrecklich müde, als wäre er die ganze Nacht über aufgewesen – was er, glaube ich, auch war. Jedenfalls hat er nicht wütend ausgesehen oder als hätte er Angst gehabt, weil er grade jemanden umgebracht hatte. Nur traurig.«
    »Wen haben Sie sonst noch gesehen?«
    »Eine ganze Menge Leute!« sagte sie rasch. »Es sind schließlich eine Menge Leute unterwegs hier, sogar um diese Zeit. Der Kaplan, und dann Mr. Plumstead – das ist der Kämmerer. Keine Ahnung, was der hier zu suchen hatte!« Sie zuckte die Achseln. »Und ein Herr, den ich nicht kenne, aber richtig elegant, mit braunen Haaren. Er schien sich nicht auszukennen. Er lief in die Wäschekammer und kam dann im nächsten Augenblick wieder raus, ganz verlegen, als hätte er gewußt, daß er sich wie ein Idiot benimmt. Ich glaube aber nicht, daß er Arzt war, um diese Zeit besuchen uns keine Ärzte. Außerdem sah er irgendwie aufgebracht aus, als hätte ihn jemand abblitzen

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