Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
es kein iPod ist, aber er macht genau dasselbe.«
» Wirklich?« Blessed wirkt völlig baff. » Aber der muss eine Menge wert sein, könnte ich mir denken.«
Erneut ertappt sich Amber dabei, dass sie ihre Großzügigkeit mit einem Schulterzucken abtut. Sie weiß, wie schwierig das Leben als alleinerziehende Mutter für Blessed ist und dass ihr Sohn viele Geräte nicht hat, die seine Altersgenossen für selbstverständlich halten. » Wahrscheinlich nicht. Ich weiß nicht. Aber es ist schon ein bisschen Musik drauf, schau. Immerhin ein Anfang.«
» Ich…« Blessed schaut sie mit Tränen in den Augen an. » Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
» Dann sag eben nichts«, meint Amber. » Nimm ihn einfach.«
» Warum tauschst du nicht einfach dein Handy aus?« Tadeusz nimmt Jackies Telefon und scrollt durchs Menü.
» Tjaaaa«, sagt Jackie. » Weil ich’s mir nicht leisten kann?«
» Aha«, meint Tadeusz. Sich Dinge nicht leisten zu können, damit kennen sich hier alle aus. Kein Mensch putzt nachts den Dreck andrer Leute weg, wenn er eine Alternative hat. Er drückt die Antworttaste und beginnt, Buchstaben einzutippen.
» Was machst du da?« Die Beunruhigung in Blesseds Stimme ist offensichtlich. » Tadeusz! Lass das!«
Tadeusz tippt weiter.
» Ich sagte, nicht antworten. Sonst macht man ihm Hoffnung auf eine Beziehung. Sie muss ihn ignorieren. Das ist die einzige Möglichkeit.«
» Schon okay.« Tadeusz blickt hoch und lächelt ihr kurz zu.
» Gib’s wieder her, Tadeusz«, sagt Jackie.
Er drückt auf Senden und reicht ihr das Handy zurück.
» Scheiße«, sagt Jackie. » Was hast du gemacht?«
Sie hackt auf die Tasten ein und scrollt durch ihre Gesendet-Liste. Öffnet die Textnachricht und fängt an zu lachen.
» Was ist los? Was steht drin?«, will Blessed wissen.
» Ihre Nachricht konnte nicht gesendet werden, weil die Nummer abgeschaltet wurde. Genial. Du bist echt ein Genie.«
Tadeusz rückt vom Tisch ab und verschränkt befriedigt die Arme.
Das Handy vibriert erneut. Jackie liest den Text vor. » Test.« Sie beginnt zu tippen.
Amber schaut auf ihre Armbanduhr. Es geht auf drei Uhr zu. Bis zur Dämmerung ist noch viel zu tun. » Auf geht’s, Leute«, sagt sie. Steht auf, um zu zeigen, dass es ihr ernst ist. » Es ist schon spät. Wir müssen an die Arbeit zurück, sonst sind wir die ganze Nacht hier.«
Die gesamte Belegschaft folgt ihrem Beispiel und rührt sich. Beim Fenster dreht sich Moses demonstrativ eine Zigarette, um sie draußen zu rauchen. Alle stehen auf. Tadeusz hat heute die Café-Schicht. Er nimmt die Tassen der anderen und schlendert zu den Küchenmülleimern.
» Genau«, sagt Jackie. » Keine Ruhe für die Gottlosen.«
KAPITEL 3
Das Mädchen ist tot. Sie muss nicht nahe ran, um das zu erkennen. Fliehendes Kinn, blicklos, eine tote Stoffpuppe. Sie trägt einen gestreiften Pullunder und einen Schlauchrock, beides hat sich um ihre Taille gerollt, Babyspeckbrüste und weiße Oberschenkel, die von den Spiegeln bis weit, weit in die Unendlichkeit reflektiert werden. Amber sieht die Leiche nicht direkt an. Nicht einmal annähernd, wenn man es genau nimmt. Sie hat das Spiegellabyrinth so oft geputzt, sie kennt all seine Tricks und Windungen. Etwa dass eine Gestalt, die man beim Eintreten am anderen Ende des Gebäudes wähnt, in Wirklichkeit direkt vor einem steht.
Oder– wie im Fall des toten Mädchens– halb liegt, den Kopf und die Schultern gegen die Wand gelehnt.
Amber packt den Türrahmen und ringt nach Luft. O Scheiße, denkt sie. Warum musste gerade ich sie finden?
Sie kann nicht älter als siebzehn sein. Das verfärbte Gesicht– der Mund halb geöffnet, als versuchte sie, ein letztes Mal, Atem zu holen– wirkt am Kinn unförmig und kindlich. Blondes Haar, verstrubbelt und abstehend. Gigantische Kreolen. Die Augen mit einer halben Tube neonblauen Lidschattens riesengroß geschminkt, das nackte Dekolleté ziert Glitzergel. Stiefel mit Plateausohlen, die zu dem verspiegelten Boden einen völlig unmöglichen Winkel bilden.
Sie war im Stardust, denkt Amber. Samstags ist im Stardust immer Siebziger-Jahre-Nacht.
Ihr ist übel. Sie wirft einen kurzen Blick hinter sich durch die offen stehende Tür und sieht, dass die Halle leer ist. Als wären ihre Kollegen komplett vom Erdboden verschwunden.
Sie tritt ein und schließt die Tür, damit kein Licht hinausdringt. Sie will nicht, dass jemand anders es sieht. Noch nicht. Nicht solange der Schock ihr die Maske heruntergerissen
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