Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
könnte sie verraten. Oh Gott, was soll ich bloß tun? Ich muss hier raus.
» Komm, wir versuchen’s hintenrum«, sagt Jackie. » Vielleicht macht sie Pause.«
» Na klar«, sagt Moses.
Das war’s, jetzt gibt es kein Entkommen mehr. Sie hört die Schritte, als die beiden draußen die Treppe wieder runtergehen und sich vom Eingang in Richtung der Wartungsgasse entfernen. Vielleicht noch zwei Minuten, bis sie hier sein werden. Es gibt kein Entkommen mehr, sie kann den Augenblick ihrer Entdeckung nicht ungeschehen machen.
Sie streckt sich, steigt über die Marionettenbeine des Mädchens und hastet zum Notausgang, der hinter einem schwarzen Vorhang verborgen ist. Am besten, sie finden sie draußen auf den Treppenstufen, an der frischen Luft, beim Erbrechen.
9 UHR MORGENS
Die Schlafzimmertür ihrer Eltern steht offen, und der käsige Geruch von ungewaschener Haut und alter Bettwäsche hängt über dem Treppenabsatz wie Faulgas. Ihre Mutter ist noch nicht auf; unter den grauen Decken kann sie ihre formlose Masse erkennen. Sie bleibt unsicher an der Tür stehen und sagt mit leiser Stimme: » Mum?«
Ihre Mutter gibt keine Antwort. Aber sie erkennt eine schwache Regung in dem fetten Arm, der die Decken niederdrückt, und weiß, dass sie wach ist.
» Mum?«
Lorraine Walker gibt einen ihrer grunzenden Atemlaute von sich, dreht sich auf den Rücken und liegt da wie eine hilflose Schildkröte auf ihrem Panzer. Sie wendet ihrer Tochter ihr blasses, verwüstetes Gesicht zu und sieht sie an. » Was ist denn?«
Ihre Stimme klingt erstickt, verschwitzt, undeutlich; sie hat ihr Gebiss noch nicht an. Obwohl es nicht mal zehn Uhr ist, ist es schon heiß draußen, und Lorraines hundertsechzig Kilo werden sie unter den Decken ersticken. Jade kann sehen, dass sie ihr schickes Nachthemd anhat: knielang, Blumendruck aus Nylonvelours und groß genug, um einen Sessel damit zu beziehen. Ihre Haut hebt sich weiß davon ab, die Ellbogen ragen aus Speckbergen hervor.
» Es ist nichts zum Frühstücken da.«
» Verflucht noch mal.« Mrs Walker wuchtet sich hoch. Jade betrachtet die verschwommenen Züge ihrer Mutter. Sie ist nicht beteiligt genug, um Abscheu zu empfinden. » Frag deinen Vater.«
O ja, stimmt. Das wird funktionieren.
Jade wendet sich ab und geht die Treppe hinunter. Durchquert im Zickzack den unteren Flur. So lange sie sich erinnern kann, musste sie sich zu Hause sorgfältig den Weg von einem Ort zum anderen bahnen. Ihr Vater bildet sich ein, Altmetallhändler zu sein, in Wirklichkeit hortet er jedoch den Schrott, den andere Leute weggeworfen haben. Und eine Menge davon hat er ins Haus geschafft, weil er sich einbildet, dass andere ebenso versessen auf seine Sammlung von Radkappen und Beschlägen sein könnten wie er selbst.
In der Küche versucht sie halbherzig, irgendetwas gegen ihren Hunger zu finden. Aber in den Regalen ist nichts. Nur sechs leere Cornflakes-Schachteln, die leere Brot-Plastiktüte und zweieinhalb Liter geronnene Milch.
Es könnte Abend werden, bevor irgendwer das merkt und etwas unternimmt. Trotz ihrer Körpermasse scheint ihre Mutter in der Lage zu sein, den ganzen Tag ohne Nahrung auszukommen. Ihre Eltern halten beide eine Diät aus Nescafé und Zigaretten ein, mit gelegentlich einem Kaninchen zur Abwechslung, wenn die Fallen mal funktionieren. Ich glaube, sie kann eine Weile von ihren Reserven leben, denkt Jade – das Äußerste an Urteil, das sie sich überhaupt zugesteht.
Sie kann den Alten draußen im Hof fluchen und hämmern hören. Ich halt mich besser von ihm fern, wenn er in dieser Laune ist. Das endet bloß mit einer aufgeplatzten Lippe, und Hunger hätte ich immer noch.
Über der Rückenlehne eines Stuhls erspäht sie das Jackett ihres Vaters. Es muss wirklich schon ganz schön heiß sein, dass er es nicht trägt. Nie hat sie ihn ohne gesehen; wenn er sich nähert, muss sie ihn gar nicht erst hören, sondern erkennt ihn an dieser Geruchsmischung aus Tabak, Schweiß und Schweinemist, die in die Fasern eingewoben ist. Sie wirft einen Blick in den Hof, um sich zu vergewissern, dass er wirklich so weit weg ist, wie es sich anhört. Dann geht sie auf Zehenspitzen hin und steckt die Hand in eine der Taschen. Seine Tabakdose, einige formlose Metallteile, ein Taschenmesser. Und – ja! – ihre Finger schließen sich um die beruhigende, erfreuliche Wärme eines Zwanzigpencestücks. Zwanzig Pence. Wahrscheinlich wird er sich nicht mal daran erinnern, dass er es mal hatte. Das reicht für
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