Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Vergnügungspark nach Feierabend in gleißendes Licht tauchen– um Nachzügler zu vertreiben, aber auch, damit die Putzleute die Kaugummiklumpen, die klebrigen Softdrinkflecken und das achtlos verschmierte Ketchup sehen können. Sie wird in den Umkleideräumen sein. Wie viele Leute mit Lochkarte nimmt sie es mit der Ankunftszeit peinlich genau, die tatsächliche Aufnahme der Arbeit lässt sie jedoch gemächlicher angehen. Sie wird sich aus ihrer Privatkleidung schälen und sie durch Trainingsanzug und Overall ersetzen.
Er spürt eine vertraute Wut über die Art und Weise aufsteigen, in der sie ihn einfach schneidet. Keine Reaktion, kein Kontakt; nur leere Stille, Tag für Tag. Ob sie überhaupt an ihn denkt? Drei Stunden hat er es ausgehalten, aber jetzt kann er nicht mehr. Er nimmt das stumme, elende Telefon und ruft ihre Nummer auf. Tippt einen Text ein: Bitte antworte mir. Ignoriere mich nicht. Beobachtet das Display, wie es arbeitet und sendet.
Auf der Straße unten ein Junggesellinnenabschied. Das weiß er, weil sie lauthals » Going to the Chapel« grölen. Es ist immer dieses Lied oder » Nice Day for a White Wedding«, bloß der Refrain, wieder und wieder, oder » Here comes the bride, short, fat and wide«. Es gibt Millionen von Liedern, aber auf derlei Partys singen sie immer das gleiche.
Ein spitzer Schrei auf der Straße, gefolgt von Gekicher im Chor. Jemand ist hingefallen. Martin schiebt sich aus dem Bett und geht ans Fenster. Reißt den Vorhang auf und sieht hinaus. Acht junge Frauen in verschiedenen Rauschstadien. Die Braut– kurzer Schleier und » Anfänger«-Schild auf Rücken und Brust– liegt auf dem Boden, gescheitert an acht Zentimeter hohen Stöckelschuhen und einem stattlichen Hinterteil. Mit einem beachtlichen Plumps ist sie in ihrem schlauchförmigen Minirock auf den Bürgersteig geknallt, der Bauch hängt über den Bund, und Titten quellen aus ihrem Dekolleté, während zwei ihrer Freundinnen an ihrem blassen Arm mit Fettgrübchen zerren. Die übrigen Freundinnen stehen verstreut auf dem Gehweg herum und zeigen torkelnd und johlend mit dem Finger auf sie. Eine von ihnen– Hotpants, riesige Reifenohrringe und bauchfreies Top– bittet Männer, die sich an der strampelnden Braut vorbeischlängeln, um Feuer.
Bauchfreies Top landet einen Glückstreffer. Eine Gruppe Junggesellen– jedes Wochenende wird die Stadt von ihnen überrannt, es sind die Art von Junggesellenabschieden, deren Teilnehmer es sich nicht leisten können, denen die Pässe fehlen oder deren Bewährungsauflagen es nicht zulassen, Sangriakotze auf warmem spanischem Asphalt zu verteilen– bleibt stehen, man gibt ihr Feuer und kommt ins Gespräch. Nun, eher in ein wechselseitiges Geschrei. Kein Mensch kommuniziert vor Martins Fenster mit weniger als Gebrüll, das Gehör zerstört von wummernden Bässen, das Gespür für andere Menschen ruiniert von Alkohol, Ecstasy und Kokain, was heutzutage weniger zu kosten scheint als ein Päckchen Zigaretten. Und man muss noch nicht mal zum Konsumieren rausgehen.
Schließlich kommt die Braut wieder auf die Beine. Sie humpelt– oder tut nur so– und benutzt die Schulter eines der Männer als Stütze. Martin beobachtet, wie die Hand des Mannes unter den Rock wandert und sich zentimeterweise nach oben vorarbeitet. Die Braut gackert, versetzt seiner Hand einen halbherzigen Klaps und klimpert dabei aufmunternd mit den Wimpern. Die Hand kehrt zurück. Sie gehen die Straße hinauf in Richtung Nachtklubviertel.
Bauchfreies Top bleibt, an das Schaufenster eines Geschäfts gelehnt, zurück und unterhält sich mit dem Feuerzeug-Spender. Sie schwankt und scheint nicht zu merken, dass ihre Freundinnen um die Ecke verschwinden. Sie zieht an ihrem Top, richtet ihre zusammengepressten Brüste auf und schnippt sich eine vor Gel strotzende Haarsträhne aus den Augen. Lächelt den Mann kokett an, versetzt ihm einen leichten Stoß auf den Oberarm. Modernes Paarungsverhalten. Man muss einem Mädchen nicht mal mehr einen Drink zahlen. Leih ihr einfach dein Feuerzeug, und sie gehört dir.
Martin lässt den Vorhang wieder herunter und schlurft ins abgedunkelte Zimmer zurück. Depressionen dringen bis in den tiefsten Winkel seines Ich. Er versteht die Welt nicht. Manchmal glaubt er, dass sie sich die Straße vor seinem Apartment nur deshalb aussuchen, um ihn zu verhöhnen. Um ihn an den Spaß zu erinnern, den er nicht hat; an die Tatsache, dass sich diese glitzernden, tanzenden Kreaturen schleunigst auf
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