Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
hat.
Gott sei Dank habe ich Gummihandschuhe an, denkt sie unsinnigerweise. Sie hat hier seit drei Jahren jeden Abend sauber gemacht, aber so vorsichtig sie auch ist, ihre Fingerabdrücke werden überall sein. Ganz zu schweigen von den Abdrücken, die die Hälfte der Besucher, die seit gestern Nacht hier gewesen sind, hinterlassen haben. Man versucht zwar, die Schmierspuren einzudämmen, indem am Eingang Einmalhandschuhe verteilt werden, aber man kann die Leute natürlich nicht zwingen, sie auch zu tragen, und den Innenbereich nicht rund um die Uhr überwachen.
Innfinnityland ist die einzige Attraktion, die Amber seit ihrer Beförderung noch selbst putzt. Der Ort bereitet jedem Unbehagen: Jeder befürchtet, sich zu verirren und nie wieder hinauszufinden, oder dass Geister in den Spiegeln wohnen. Allzu häufig wurde die Arbeit, die einem eine fast autistische Akribie abverlangt, nur hastig und schlampig erledigt, sodass Abdrücke zurückblieben; doch an einem Ort wie diesem wird ein einziger Schmutzfleck unendliche Male vervielfältigt, und der ursprüngliche ist nur schwer aufzuspüren, wenn man sich nicht Fingerabdruck für Fingerabdruck, Glas für Glas vorarbeitet. Sie hat schon vor langer Zeit beschlossen, dass es am einfachsten ist, es selbst zu machen. Und wünscht sich jetzt sehnlichst, sie hätte es nicht getan.
Das Mädchen hat grüne Augen, wie Amber selbst. Ihre Handtasche– Krokoimitat– hat sich geöffnet und herzzerreißende Überreste von gefassten Plänen und gehegten Hoffnungen verstreut. Ein Lippenstift, ein Flakon JL o, ein pinkfarbenes Handy mit einem Anhänger in Form eines Stöckelschuhs– flüchtige Hinweise auf die Identität der Besitzerin, die jetzt, unter ihrem glasigen Blick, geschmacklos wirken.
Da ist kein Blut. Nur die Würgemale an ihrem Hals. Sie ist die Dritte in diesem Jahr, denkt Amber. Das kann kein Zufall sein. Zwei sind Zufall; drei sind… Ach, du armes Kind.
Amber friert bis ins Mark, obwohl es eine warme Nacht ist. Langsam kämpft sie sich vorwärts, wie ein alter Mensch stützt sie sich dabei mit einer zitternden Hand an den Spiegelwänden ab. Während sie so weiter vordringt, kreuzen neue Spiegelungen ihr Blickfeld: Millionen Leichen, verstreut in einer Halle schier endlosen Ausmaßes.
Dann plötzlich sie selbst. Weißes Gesicht, große Augen, der Mund eine schmale Linie. Wie Lady Macbeth steht sie über der Leiche.
Was hattest du vor? Sie zu berühren?
Der Gedanke lässt sie erstarren. Sie hat nicht nachgedacht. Im Schock handelt sie instinktiv, wie ein Roboter. Achtlos.
Was tust du jetzt? Du darfst nicht hineingezogen werden. Unmöglich. Anonym. Du sollst anonym bleiben. Wenn du da hineingezogen wirst, dann finden sie’s raus. Wer du bist. Und sobald sie das wissen…
Sie fühlt Panik in sich aufsteigen. Ein nervöses Kribbeln, einen starken Juckreiz. Vertraut, nie weit unter der Oberfläche. Sie muss sich schnell entscheiden.
Ich darf nicht diejenige sein, die sie findet.
Sie tritt den Rückzug an. Tastet sich zum Eingang zurück.
Das tote Mädchen starrt in die Unendlichkeit. Hol dich der Teufel, denkt Amber, auf einmal wütend. Warum musstest du dich ausgerechnet hier umbringen lassen? Was hattest du überhaupt hier zu suchen? Hier war schon seit Stunden geschlossen. Der ganze Vergnügungspark ist schon seit Stunden geschlossen.
Ihr geht auf, was sie da gerade denkt, und sie lacht sarkastisch auf. » Mist«, sagt sie laut. » Mein Gott, was soll ich bloß tun?«
Hilfe holen. Tu, was jeder tun würde, Amber. Lauf nach draußen, und benimm dich so, wie du dich fühlst: geschockt und erschreckt. Niemand wird Fragen stellen. In dieser Stadt bringt irgendwer Mädchen um, das heißt aber nicht, dass sie dich wiedererkennen werden.
Aber sie werden dich fotografieren. Du weißt, wie die Presse ist. Die stürzt sich auf alles, um die Seiten vollzukriegen, auf jede Kleinigkeit, um fehlende Fakten wettzumachen. Du wirst in sämtlichen Zeitungen sein, als die Frau, die die Leiche gefunden hat.
Ich kann das nicht tun.
Jemand ist an der Eingangstür, das plötzliche Geräusch der vergeblich heruntergedrückten Klinke lässt sie zusammenfahren. Sie hört Jackie und Moses: Jackie, die plappert und flirtet, Moses, der einsilbig antwortet, jedoch mit einem deutlichen Lächeln in der Stimme.
» Sie ist immer hier, nach der Teepause«, sagt Jackie. » Amber? Bist du da drin? Die Tür ist abgeschlossen.«
Amber hält den Atem an, aus Angst, das Geräusch des Ausatmens
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