Im Schatten der Lüge: Thriller (German Edition)
Nachrichtenticker im Internet am frühen Morgen. » Komm«, sagt er, » Ich mache dir eine Tasse Tee, und wir sehen uns die Nachrichten an.«
Sie versteift sich leicht in seinen Armen. Als er sie loslässt, bemerkt er einen merkwürdigen Ausdruck auf ihrem Gesicht, fast Widerwillen. Er lacht und streicht ihr mit der flachen Hand über die Wange. » Ist schon gut, Süße«, versichert er ihr. » Einmal Zeitungsschreiber, immer Zeitungsschreiber. Ich will ehrlich nicht, dass du dich änderst. Ich war ein– ich war sauer. Ich hab’s nicht so gemeint. Ansonsten wärst du schließlich nicht die Frau, die ich geheiratet habe, oder? Geh schon mal vor. Ich bin in einer Minute bei dir.«
Sie geht ins Wohnzimmer, und er hört kurz die Werbung auf dem Lautstärkelevel seiner Mutter, durchdringend laut, bis sie die Fernbedienung findet und leiser stellt. Er setzt den Kessel auf und sucht im Schrank nach Keksen. Er weiß, dass seine Mutter immer Vollkornkekse im Haus hat. Gewöhnlich auch Kuchen, doch noch als Erwachsener fühlt er sich an die Regeln seiner Kindheit gebunden. Kuchen isst man zum Tee am Nachmittag. Obst ist teuer, das gibt es nur nach dem Mittagessen, wobei Kirschen in Zehnerpartien abgezählt werden. Süßigkeiten nur am Sonntag nach dem Mittagessen, wenn du brav warst. Wenn du Hunger hast, nimm dir ein Stück Toast. Aber iss nicht zu viel, pass auf, du willst dir ja nicht den Appetit aufs Abendessen verderben. Er lächelt bei diesen Erinnerungen und fühlt sich wie immer getröstet durch die unvergängliche Präsenz seiner Kindheit. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für Kirsty sein muss, denkt er; es gibt so wenig, was das wettmacht.
Er findet die Kekse, legt vier auf einen Teller und stellt ihn zusammen mit den Teebechern auf das Zinntablett mit dem Guinness-Tukan. Das hatte sein Vater wohl einmal irgendwann aus einem Pub geklaut, obwohl er sich kaum vorstellen kann, dass es für seine Eltern Augenblicke gab, in denen sie sich nicht gewissenhaft an ihre Moralvorstellungen hielten. Er brüht zwei Becher Tee auf und gibt Zucker hinzu, schön süß, wie Kirsty es liebt, es sich jedoch selten erlaubt. Das sind doch die wirklich großen Dinge im Leben. Nicht der Urlaub und die Abendessen und der Wunsch nach immer mehr, sondern vielmehr die zwei Becher Tee, bei denen man sich nach einem langen Tag aneinanderkuschelt. Und Aufrichtigkeit, Wahrheit, Vertrauen, und der sichere Zufluchtsort, den man schafft, um die, die man liebt, darin warm zu halten.
Er trägt das Tablett hinüber. Das Zimmer ist dunkel, nur die Stehlampe in der Ecke mit altmodischen Troddeln und Staub in ihrem Lichtkegel sowie das Flackern des Fernsehers erhellen ihr ernstes Gesicht. Sie sitzt mit angezogenen Knien und seitlich unter sich geklemmten Füßen auf dem Sofa, die Arme sind um ein Kissen auf ihrem Schoß geschlungen, und sie sieht auf den Bildschirm. Er stellt das Tablett auf den Couchtisch und reicht ihr ihren Tee. Setzt sich neben sie, sein Schenkel berührt freundschaftlich ihre Zehen. Irgendwelche Leute schütteln sich vor einem weißen, mit Fahnen verzierten Betonbau gerade die Hände.
» Und, was gibt’s Neues?«, erkundigt er sich.
» Vereinte Nationen. Pakistan. Der Sicherheitsrat kommt seinen Aufgaben nicht nach. Das Übliche.«
Sie legt ihre Hände um den Teebecher, als seien sie kalt. Bläst hinein wie ein Kind. » Magst du einen Keks?«, fragt er.
» Ja«, sagt sie. » Gib her.«
Er lächelt, als er sieht, dass sie ihn fast vollständig eintunkt, dann besinnt sie sich und zieht ihn wieder heraus. Obwohl die meisten fürs neue Jahr gefassten Vorsätze auf der Strecke geblieben sind, an diesem hält sie fest, denn sie vertritt die Theorie, dass man mehr von etwas isst, wenn man es nicht kauen muss. » Ich freue mich, dass du hier bist«, sagt er ihr noch einmal. » Das ist schön. Einfach… Du weißt schon.«
Kirsty nimmt eine Hand von ihrem Becher, legt sie in seine und drückt sie. Sie wenden ihre Aufmerksamkeit dem Fernseher gerade noch rechtzeitig wieder zu, um Archivaufnahmen der Strandpromenade von Whitmouth zu sehen, einige Meter Film von Polizeifahrzeugen und Menschenmassen sowie ein Bild dieser Frau, Amber Gordon, deren schlimme Lage Kirsty letzte Woche so wütend gemacht hat. Die Stimme aus dem Off setzt ein. Eine Verhaftung, heute früh. Ein nächtlicher Mord, die Verdächtige in Gewahrsam, die Anklagepunkte werden für morgen erwartet.
» Mensch«, sagt er. » Was ist denn da los?«
Kirsty ist
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