Im Schatten der Mitternachtssonne
und zog sich daran hoch.
Orm schüttelte nun stöhnend den Kopf, versuchte sich aufzusetzen.
Rasch schob sie sich nach draußen, schlug die Tür zu und lehnte am Pfosten, eine zerlumpte, blutüberströmte, zusammengesackte Gestalt, ihr rechter Arm hing leblos an ihrer Seite. Sie schwankte wie betrunken auf dem gesunden Bein, konnte kaum atmen, so stark war der Schmerz in ihrer Brust. Sie mußte den Riegel vorschieben. Wenn sie das nicht schaffte, würde er jeden Moment wie ein verwundeter, wilder Keiler aus der Tür rasen, und alles wäre verloren. »Freya«, betete sie, »hilf mir!« Sie stieß die Worte halblaut ächzend hervor. »Hilf mir!«
Sie hob den schweren Riegel und schob ihn in die Eisenhalterungen. Sie hatte es geschafft. Nun brauchte sie eine Fackel. Sie wußte nicht, wo Orms Leute waren. Einige hielten sich vermutlich im Langhaus auf, bewachten Egill und Lotti. Andere lagen irgendwo im Hinterhalt, um Magnus aufzulauern. Im Umkreis um das Langhaus brannten etwa ein Dutzend kleiner Feuerstellen, um die einige Männer lagerten.
Sie brauchte nur eine Fackel. Langsam humpelte sie los, den linken Arm stützend um die Rippen gelegt.
Plötzlich tauchte ein Mann im rauchigen Schein des Lagerfeuers auf. »Halt! Wer seid Ihr? Was geht hier vor?«
Ingunn spürte, wie sie jede Kraft und Hoffnung verließ. Es war einer von Orms brutalen Schlägern, der auf sie zukam. Dann blieb der riesenhafte Kerl abrupt stehen, horchte wie ein Tier auf ein fremdes Geräusch.
Jetzt hörte auch Ingunn das Geräusch. Es war Orm, der wie ein Stier brüllte und gegen den Verschlag der Hütte hämmerte. Der Mann ließ sie stehen und rannte los.
Nein! Sie war ihrem Ziel so nahe. Tränen brannten in ihren Augen. Sie hob den abgebrochenen Zweig einer Ulme vom Boden auf und humpelte weiter. Das Lagerfeuer war verlassen. Ingunn drückte den Zweig in die Glut und sah zu, wie die Flammen im dürren Laub hochzüngelten. Dann trug sie die brennende Fackel vor sich her, alle Schmerzen waren vergessen, sie wankte nicht und stolperte nicht. Sie marschierte wie ein Soldat geradewegs in den Kampf auf die Hütte zu. Dort stand der Mann und versuchte, den Riegel zu heben.
Der Riegel klemmte, rührte sich nicht.
Ingunn trat von hinten an ihn heran und hielt die brennende Fackel an sein Haar und danach an seine Tunika. Er fuhr herum, starrte sie an, als sei sie eine Höllenerscheinung. Dann stieg ihm der Brandgeruch in die Nase, er spürte das Feuer im Rücken. Schreiend rannte er auf und davon und schlug sich mit den flachen Händen auf den Hinterkopf.
Ingunn hörte Orms Gebrüll: »Öffne sofort den Riegel, du Idiot! Ich muß die Frau kriegen. Bei allen Göttern, dafür wird sie mir büßen. Mach die Tür auf! Worauf wartest du? Schieb den Riegel hoch!«
Ingunn lächelte. »Orm . . .«
Es entstand eine tödliche Stille.
Dann seine Stimme, weich und einschmeichelnd: »Laß mich raus, Ingunn. Du hättest mich nicht schlagen dürfen, Liebes. Ich dachte, du spaltest mir den Schädel. Ich bin gekommen, um dich freizulassen. Ich wollte dich ins Langhaus bringen und deine Wunden selbst versorgen. Ich wollte dir nicht so furchtbar weh tun. Aber ich mußte dich bestrafen für das, was du getan hast. Aber ich tu es nicht wieder, Ingunn, nie wieder. Du wirst meine Frau, und ich will dich lieben und dich beschützen.«
»Versprichst du mir das, Orm?«
»Ja, mein Liebe.«
Seine Stimme klang sehr ehrlich und vertrauenerweckend. Und Ingunns Lächeln wurde breiter. »Wirst du mich morgen heiraten?«
»Ja. Nun öffne die Tür, Schatz.«
»Bald, Orm. Dir muß kalt sein, die Nachtluft ist frisch geworden. Bald kommt der Herbst und dann schneit es. Doch dann wirst du nicht mehr hier sein.«
»Ingunn, was meinst du damit? Komm, sprich nicht solchen Unsinn. Mach die Tür auf, sonst . . .«
»Sonst was, Orm?« Ihre Fackel berührte die Holzwand, die allerdings das Feuer nicht fangen wollte. Ingunn hob den Arm, leise stöhnend vor Schmerz, und hielt die brennende Fackel an das Dach. Das Stroh fing sofort Feuer, gelbrot züngelnd, dunkler Rauch quoll auf.
Sie wußte genau, in welchem Moment Orm erkannte, daß es für ihn kein Entrinnen mehr gab. Panik schwang in seiner Stimme. Und Angst. Er brüllte: »Mach die Tür auf, du blödes Weib! Bei Thor, dafür wirst du mir bezahlen, du Miststück . . .«
Sie unterbrach ihn mit sanfter, wenn auch fester Stimme, als schelte sie ein ungehorsames Kind: »Sei nicht so ungeduldig, Liebster. Bald laß ich dich frei,
Weitere Kostenlose Bücher