Im Schatten der Mitternachtssonne
knickte ihr Arm mit einem stechenden Schmerz ein, und sie fiel erneut mit dem Gesicht auf den festgestampften Lehmboden.
Sie durfte nicht sterben. Sie durfte Egill nicht Orms Gewalt und Willkür überlassen. Langsam, sehr langsam, bewegte sie ihren linken Arm.
Orm saß grübelnd im Langhaus, das Kinn in die Hand gestützt. Das Haus war erfüllt mit beißendem Rauch, denn das Abzugsloch im Dach war verstopft. Sachsenschweine! Wieso hatten sie das nicht gesäubert? Es gab nicht einmal ein Badehaus. Er hatte die Sklaven sogleich damit beauftragt, eine Badehütte zu bauen. Er wandte den Kopf zu dem Jungen und dem kleinen Mädchen. Sie kauerten nebeneinander in einer Ecke. Der Junge sprach leise auf das Mädchen ein. Die beiden schienen die Menschen um sie herum nicht wahrzunehmen.
Magnus' Sohn! Ah, wie gut er schmeckte, dieser Sieg über seinen Feind. Es war dumm von ihm gewesen, die Kinder an Guthrum zu verkaufen. Der König hatte sie zu gut behandelt, ihnen nicht gezeigt, was es hieß, Sklave zu sein, das Eigentum eines Herrn, der über Leben und Tod bestimmte. Er dachte kurz an die Geliebte des Königs, Cecilia, und lächelte. Sie hätte gerne einen jungen Mann in ihrem Bett. Vielleicht würde er ihr den Gefallen tun. Er fand sie kindisch und geziert, doch ihr Körper reizte ihn. Jetzt mußte er auch keine Rücksicht mehr auf Ingunn nehmen, die treulose Schlampe.
»Egill! Komm her!«
Die Männer und Frauen im Langhaus verstummten beim barschen Ton seiner Stimme. Der Junge hob den Kopf und blickte quer durch den großen Raum zu Orm hinüber. Langsam erhob er sich, tätschelte Lottis Schulter, um sie zu beruhigen, denn ihre Augen hatten sich angstvoll geweitet.
»Komm her, oder du bekommst die Peitsche zu spüren!«
Die Männer und Frauen blickten verstohlen zu dem Jungen hinüber. Sie nahmen ihre Arbeiten wieder auf aus Angst, ihr neuer Herr könne sie beim Nichtstun ertappen.
Egill blieb vor Orm stehen, aufrecht, stumm, abwartend.
Orm überlegte, ob er den Jungen nicht einfach totschlagen sollte. Doch er sagte: »Ich habe beschlossen, dich an die Sachsen in König Alfreds Wessex zu verkaufen. Was hältst du davon?«
»Wirst du Lotti nach Malek zurückschicken?«
Orm lachte. »Vielleicht.«
Egill spürte einen Hoffnungsschimmer, dann krallte sich eine kalte Faust um sein Herz. Orm war wahnsinnig. Man durfte ihm kein Wort glauben. Er würde Lotti töten. Er würde sie nie freilassen.
Wieder sah er Orm vor sich, wie er Ingunn verprügelte, wie seine Fäuste ihr Gesicht bearbeiteten. Der Mann war eiskalt und blutrünstig.
»Vielleicht aber auch nicht. Dein Vater wird bald kommen, Junge. Dann werden wir weiter sehen. Schau mich nicht so ungläubig an. Ich habe ihm Zeichen hinterlassen. Er ist nicht dumm. Er wird sie verstehen, und er wird ihnen folgen. Und den Fetzen vom Kleid des Mädchens, den habe ich für Zarabeth zurückgelassen, damit sie Bescheid weiß. Ich hätte ihr Gesicht gern gesehen. Sie hat ein sehr ausdrucksvolles Mienenspiel, in dem all ihre Gefühle und Gedanken zu lesen sind. Wahrscheinlich hat sie vor Freude geweint.
»Ich will Magnus nun schon seit langer Zeit. Seit langem möchte ich ihn langsam töten, möchte seine Schmerzensschreie hören, sein Flehen, ich möge ihn von seinen furchtbaren Leiden erlösen. Wie seine Schwester, das treulose Miststück, mich angefleht hat. Wahrscheinlich hängt sie aber immer noch am Leben. Vielleicht sollte ich mal nach ihr sehen. Vielleicht braucht sie noch eine Lektion in gutem Benehmen.«
»Warum haßt du meinen Vater? Er hat dir nie etwas Böses getan.«
Orm hob den Arm, ließ ihn langsam wieder sinken, und dachte mit gefurchter Stirn über die Frage des Jungen nach. »Wieso ihn hassen? Nein, ich möchte ihn nur töten, weil er ist, wie er ist, wie er denkt, wie er handelt. Er ärgert mich nun seit langer Zeit, dieser selbstgerechte und stolze Herr, dein Vater. Und deine Mutter Dalla war verrückt und eitel, aber er hat sie bekommen. Es war nicht recht, daß nicht ich sie bekommen habe; es war nicht recht, daß Magnus der Sieger war. Ich mag keine Niederlagen. Ich nehme sie nicht hin.«
Egill blieb stumm. Orm Ottarsson war ein furchterregender Mann, mit ihm konnte niemand vernünftig reden, das erkannte Egill ganz deutlich. Nein, die einzige Möglichkeit war Flucht. Er mußte seinen Vater warnen. Und er mußte Lotti retten.
Er fühlte sich sehr alt für seine acht Jahre und sehr klein. Aber er mußte es versuchen.
Orm baute sich vor Egill auf.
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