Im Schatten der Mitternachtssonne
der ein Auge auf sie geworfen hatte.
Horkel hatte sie schon im Bett gehabt. Das hatte er Magnus gestanden; und zu seiner großen Erleichterung hatte Magnus ihm deshalb nicht den Schädel gespalten, sondern ihm lediglich einen kernigen Schlag auf die Schulter versetzt.
Bald sollte Ingunn verheiratet werden und Zarabeth ... Seine Gedanken stießen an eine Mauer, die er selbst errichtet hatte. Zarabeth war seine Sklavin. Er hatte geschworen, sie nicht zur Frau zu nehmen, nicht nachdem, was sie ihm, was sie Olav angetan hatte.
Auf einer Lichtung in der Ferne stand ein Bock, ein schemenhafter Umriß, unbeweglich wie aus Stein. Langsam spannte er den Bogen.
Die Spätnachmittagssonne strahlte immer noch hell. Zarabeth hatte die Kühe im Stall neben der Vorratshütte gemolken. Sie hatte sich das hölzerne Joch auf die Schultern gelegt; die beiden randvollen Eimer hingen an Ketten zu beiden Seiten und hielten das Gleichgewicht. Die Holzstange tat ihrem Rücken nicht sonderlich weh, sie ging mit kleinen Schritten über den Hof.
Sie hob den Kopf in die gleißende Sonne und blickte hinüber ans andere Ufer des Viksfjord auf die hohen mit Föhren und Tannen bestandenen Berge. Es war ein schönes Land, unsagbar schön. Und die Luft war warm und duftete süß nach frischer Milch, die sie trug. Sie wäre gerne noch ein wenig im Freien geblieben, doch es war weder empfehlenswert, die Milch der Sonne auszusetzen, noch Ingunn zu verärgern.
Seufzend wandte sie sich dem Langhaus zu. Da hörte sie einen Schrei. Erschrocken fuhr sie herum. Es war ein heiserer, gurgelnder Laut. Er kam von Lotti. Zarabeth nahm sich nicht die Zeit, das Joch abzulegen, sie rannte einfach los. Hinter einem Holzstoß sah sie Egill, der Lotti zu Boden drückte, an ihren Zöpfen riß, und ihren Kopf auf die harte Erde schlug und sie dabei wütend beschimpfte.
Zarabeth schrie entsetzt auf, warf das Joch mit den vollen Eimern von sich. Die Milch ergoß sich und versickerte in den Boden.
»Egill!« schrie sie im Laufen. »Hör auf! Laß sie los!«
Lottis Fäuste trommelten auf den Rücken des Jungen, sie wand sich und strampelte wild unter ihm, doch er war wesentlich größer und stärker, und Zarabeth war voll Angst, daß er ihr weh tun könnte.
»Egill! Hör auf damit!«
Er schien sie nicht zu hören. Sie warf sich auf den Jungen, schlang ihre Arme um seine Brust und versuchte, ihn mit aller Kraft hochzuheben. Lotti schrie gellend, der Junge leistete erbittert Widerstand, und Zarabeth schrie ihn nur noch lauter an, beschimpfte ihn, zerrte ihn hoch, doch seine Hände hielten immer noch Lottis Zöpfe umklammert, zerrten wütend daran.
Plötzlich spürte Zarabeth Männerhände, die sie wegzogen. Sie ließ den Jungen los und taumelte zu Boden. Magnus nahm Egills Gesicht in seine Hand und sah dem Jungen ernsthaft in die Augen. Im nächsten Augenblick stand Egill vor Lotti und hielt den Blick auf seine Füße gesenkt.
Zarabeth kroch auf allen Vieren zu ihrer kleinen Schwester. »Hat er dir weh getan? Geht es dir gut, Liebes? Bitte Lotti, bitte!« Sie tastete verzweifelt die Gliedmaßen des Kindes ab, Arme und Beine, glättete ihr Kleid, rief immer wieder zärtlich ihren Namen.
Doch die Kleine hielt die Augen geschlossen.
»Du hast die ganze Milch verschüttet, du dummer Trampel! Das hast du mit Absicht gemacht!«
Es war Ingunn.
Plötzlich ertrug sie es nicht mehr. Es war einfach zu viel. Zarabeth raffte sich auf, schlang ihre Arme um ihre kleine Schwester, kam mühsam auf die Beine, drehte sich auf dem Absatz um und ging einfach weg. Magnus rief hinter ihr her, doch sie achtete nicht auf ihn. Sie hörte Ingunns Kreischen, auch darauf achtete sie nicht.
Sie ging unbeirrt und mit festen Schritten weiter, durch das Palisadentor, den steilen Pfad hinunter, der zum Viksfjord führte.
18
»Zarabeth! Bleib stehen!«
Sie hörte sein Fluchen, ohne auf ihn zu achten. Er fluchte lauter und lästerlicher. Sie ließ seine Flüche hinter sich und alles, was zu ihm gehörte, was mit diesem ungastlichen Land, mit diesen feindseligen Menschen zu tun hatte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem schmalen, steilen Pfad vor ihr, an dessen Ende ein Kahn am Steg festgemacht war. Sie hatte noch nie zuvor ein Boot gerudert. Sie würde es schaffen, daran hatte sie keinen Zweifel.
»Zarabeth! Wo willst du hin? Halt! Bleib stehen!«
Sie begann zu laufen, hastete stolpernd den Pfad entlang, seine Stimme kam näher. Doch sie war wild entschlossen, hielt Lotti fest an sich
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