Im Schatten der Mitternachtssonne
damit abfinden. Das Kind war ertrunken, als es versuchte, ihn zu retten. Sie hatte Papa gerufen und war ins Wasser gesprungen, weil sie glaubte, er würde ertrinken.
Den Gedanken konnte er nicht ertragen. Er ließ den Kopf an Zarabeths Stirn sinken und weinte.
Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Seine Männer schwammen an Land, andere kletterten ins Boot. Horkel nahm die Ruder auf. Kurz darauf lag der Kahn wieder vertäut am Steg. Magnus trug Zarabeth den schmalen Pfad zum Palisadenzaun hinauf. Die Männer folgten ihm, schweigend, grimmig. Die sengende Sonne vermochte sie nicht zu erwärmen, denn sie hatten den Kampf verloren.
Zarabeth bewegte sich an seiner Schulter. Er drückte sie fester an sich, da er fürchtete, sie würde sich gegen ihn wehren, wenn sie wahrnahm, daß er sie trug. Doch sie kämpfte nicht. Er wußte, daß sie bei Bewußtsein war, doch sie regte sich nicht.
»Es tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe«, sagte er, seine Augen auf den Weg gerichtet.
Ihre Stimme klang sehr dünn. »Lotti?«
Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Er konnte nur den Kopf schütteln.
Sie versuchte sich zu entwinden, bäumte sich auf und wehrte sich gegen ihn, bis er stehenblieb und sie absetzte. Seine Hände hielten ihre Arme umfangen. »Hör auf! Wir haben alles Menschenmögliche getan. Verstehst du, Zarabeth? Sie war nicht zu retten!«
»Nein! Du lügst! Bitte, Magnus, bitte! Laß mich los! Ich muß sie finden, sonst geschieht ihr noch ein Leid, ein Leid . . .«
Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie schlug mit Händen und Füßen um sich, bis er sie noch einmal schlagen mußte. Sie sackte an seine Brust.
»Du mußtest es tun, Magnus«, sagte Horkel. »Möchtest du, daß ich sie trage?«
Magnus schüttelte nur den Kopf und hob sie wieder auf seine Arme.
»Du hast alles getan, was du tun konntest. Wir haben unser Bestes getan. Als wir erkannten, was geschehen war, sprangen wir alle ins Wasser, um nach ihr zu suchen. Sie hatte keinen schweren Tod, Magnus. Sie hatte keine Schmerzen. Vergiß das nicht.«
Er nickte tränenerstickt und hielt den Blick auf den Weg gerichtet.
In ihm war ein unerbittlich krallender Schmerz. Seine kleine Schwester war gestorben, als er zehn war, doch ihr Tod war nicht mit diesem unsagbaren Schmerz zu vergleichen.
Horkel sagte leise neben ihm: »Tief in deinem Innern hast du gewußt, daß das Kind keine Überlebenschance hatte. Bei Thor, Magnus, das Mädchen war schließlich taub!«
»Na und, Horkel? Ist es besser für sie, jetzt zu sterben als in zwei oder drei Jahren?«
»Ich meine nur, daß wir nichts ausrichten konnten. Daß niemand Schuld hat, nicht du, nicht Zarabeth. Und auch nicht Egill.«
Horkel hatte recht, doch das linderte seinen unbeschreiblichen Schmerz keineswegs.
In der Umzäunung hatten sich die Bewohner versammelt. Alle wußten, daß ein Unglück geschehen war. Selbst Ingunn schwieg, ratlos, abwartend und hoffend, daß die Frau ertrunken war. Magnus trug sie, ihr Kopf hing leblos nach hinten, sie triefte vor Nässe und war totenbleich.
Doch die Frau war nicht tot, und Ingunn spürte ohnmächtige Wut. Die Frau bewegte sich. Ingunn trat vor, versperrte dem Bruder den Weg. Plötzlich hoffte sie, Magnus habe endlich begriffen, daß die Frau nichts wert war. Sie hatte schließlich die ganze Milch verschüttet. Und bloß wegen ihrer schwachsinnigen, kleinen Schwester.
»Was ist mit ihr geschehen? Hast du sie geschlagen wegen ihrer Anmaßung und ihres Ungehorsams?«
Magnus schaute durch seine Schwester hindurch.
»Was ist geschehen?«
»Halt den Mund, Weib!« sagte Ragnar. »Das kleine Mädchen ist ertrunken, weil es versucht hat, Magnus zu retten.«
Ingunn zog die Luft hörbar durch die Zähne ein. Eine von ihnen war tot, wenn auch nicht die, deren Ende sie lieber gesehen hätte, aber immerhin ... Schulterzuckend sagte sie: »Das ist wirklich kein Unglück. Das Kind hätte nicht überlebt. Es ist ein Wunder, daß sie nicht schon früher gestorben ist. Sie war schließlich taub. Sie . . .«
Magnus blickte seine Schwester an. Horkel hatte eigentlich das Gleiche gesagt, aber nicht mit Ingunns Bösartigkeit und Gemeinheit. Die Worte seiner Schwester schnitten ihm tief ins Herz. »Sei still, Ingunn! Du sagst kein Wort mehr, hast du mich verstanden?«
»Was bekümmert es dich? Die Frau hat doch selber Schuld. Sie war nichts als . . .«
Magnus verlor die Beherrschung. Er übergab Zarabeth an Horkel, trat an seine Schwester heran und versetzte ihr mit dem
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