Im Schatten der Mitternachtssonne
Plötzlich hörte er ein Kind rufen: »Papa! Papa!«
Lotti rannte mit ausgestreckten Ärmchen auf ihn zu, ihr Gesicht voller Angst, und wieder rief sie laut und deutlich: »Papa! Papa!«
Er hob sie hoch, zog sie an sich und legte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr kleiner Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Er redete leise auf sie ein, seine Hand tätschelte sanft ihren Rücken. Dann setzte er sie auf seinen Schenkel und strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht. »Was ist los, Lotti?«
Sie weinte immer noch leise, doch ihr Schluchzen war einem Schluckauf gewichen.
»Hast du schlecht geträumt?«
Sie sah ihn mit großen, ängstlichen Augen an.
»Hast du von Drachen und bösen Ungeheuern geträumt?«
Sie nickte langsam und sagte wieder, ganz laut: »Papa«, und schlang die Arme um seinen Hals.
»Du läßt dir das von diesem schmutzigen, kleinen Idiotenkind gefallen! Das ist ekelhaft!«
Magnus schenkte Ingunn keine Beachtung.
Horkel wandte sich an ihn: »Sie spricht immer besser, Magnus. Sie macht deutliche Fortschritte.«
»Das kommt vermutlich daher, weil sie schon ein paar Worte sprach, bevor Olav sie auf den Kopf geschlagen hat. Damals war sie zwei Jahre alt. Sie kam nicht gehörlos zur Welt.«
Er wiegte das kleine Mädchen in seinen Armen und wünschte sich, sie wäre sein Kind. Nun lehnte sie sich in seinen Armen zurück und schaute Magnus ins Gesicht. »Zarabeth«, sagte sie stirnrunzelnd, und wieder trat die Angst in ihre Augen.
»Zarabeth ist bald wieder gesund. Sie schläft jetzt, und du mußt jetzt auch schlafen, mein kleiner Schatz.«
Lotti hob die Hand, und ihre Fingerspitzen tasteten leicht über seine Lippen. Er grinste und versuchte, nach ihren Fingern zu schnappen. Sie lachte vergnügt auf. Das Kinderlachen rührte ihn und nährte seinen Beschützerinstinkt.
Er drückte sie wieder liebevoll an sich. Sie schmiegte sich an seine Brust und war bald eingeschlafen.
Horkel sah seinen Freund lange an, dann schüttelte er den Kopf. »Es ist nicht gut«, sagte er, und in seinen Augen und in seiner Stimme lag tiefe Traurigkeit. »Es ist ganz und gar nicht gut.«
Magnus glaubte zu wissen, was er meinte, wollte es jedoch nicht wahrhaben.
Am nächsten Morgen setzte Zarabeth sich an die Bettkante. Er war gegangen, bevor sie erwachte. Sie war hungrig und mußte sich erleichtern. Doch sie zögerte, den Hauptraum zu betreten. Ingunn würde dort sein und Cyra und all die anderen, die sie für eine Mörderin und Lügnerin hielten, für die sie nur eine elende Sklavin war.
»Feigling«, schalt sie sich und stand auf. Sie war steif vom langen Liegen, und ihr Rücken schmerzte, als sie sich aufrichtete. Ingunn saß im Raum mit einer Näharbeit auf dem Schoß und überwachte das Gesinde bei der Hausarbeit.
Lotti war bei Eldrid, die ihr zeigte, wie man eine Nadel führte. Zarabeth beugte sich über das Kind und gab ihr einen Kuß. Erst dann bemerkte die Kleine sie, so emsig war sie in ihre Arbeit vertieft, strahlte ihre große Schwester an und zeigte ihr die Stiche, die sie auf einem Stück Stoff zuwege gebracht hatte.
»Sehr schön«, sagte Zarabeth lobend. Und Lotti beugte sich wieder eifrig über ihre Näharbeit.
Ingunn sagte in sachlichem Tonfall: »Tante Eldrid paßt auf sie auf, das hat Magnus angeordnet. Er ist mit den Männern zur Jagd. Er sagt, du brauchst nicht zu arbeiten.«
Zarabeth fiel die Gezwungenheit ihrer Stimme nicht auf, doch die anderen Frauen und selbst die Kinder, die atemlos lauschten, hörten die unheilvolle Spannung. »Ich möchte gerne baden.«
Ingunn schnaubte verächtlich. »Ich habe gehört, die Menschen im Danelagh stinken wie die Schweine, die sie hüten. Warum willst du so oft baden wie wir Wikinger?«
»Ich habe keine Schweine gehütet, vielleicht ist das der Grund.«
»Aha. Oder hat Magnus es dir befohlen? Er hat es gern, wenn seine Frauen gut riechen. Glaubst du immer noch, du könntest ihn an dich binden? Hast du Cyra mal angesehen, du dumme Gans?«
»Ja.«
»Im Vergleich zu ihr bist du ein Stück Dreck! Du bist nur eine kurze Ablenkung für ihn, mehr nicht. Nur ein neuer Frauenkörper, den er benutzt und dann wegwirft. Anfangs hat ihn deine Haarfarbe gereizt. Aber jetzt ist sie ihm alltäglich geworden. Er wird Cyra wieder zu sich nehmen, du wirst sehen.« Dann blickte Ingunn böse zu Lotti hinüber. Was ging hier vor? Unbewußt trat Zarabeth auf ihre kleine Schwester zu.
Nun erhob Eldrid die Stimme und sagte laut und deutlich und scheinbar in aller
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