Im Schatten der Mitternachtssonne
der kalte Haß war geblieben. Magnus bemerkte den Abdruck seiner Hand auf ihrer Wange und hatte keinerlei Gewissensbisse. Sie schenkte ihm keine Beachtung.
Der Tag schleppte sich in den Abend. Er war zu nichts fähig. Seine Leute standen in kleinen Gruppen herum, sprachen gedämpft miteinander. Auch die Kinder waren ungewohnt still. Selbst die Hunde schlichen bedrückt herum.
Magnus begab sich in seine Kammer. Zarabeth schien zu schlafen. Seufzend entkleidete er sich und legte sich neben sie. Da bemerkte er, daß sie wach war. Er sagte nichts. Sie lag ganz still. Er wußte, daß sie seine Nähe kaum ertragen konnte, daß sie nicht wahrhaben wollte, wie sehr sein Schmerz und seine Trauer ihn in die Knie zwangen. Ihrer Meinung nach durfte er keine Trauer empfinden. Lotti sollte ihm nichts bedeuten. Er war schließlich ein Wikinger, ein Mann ohne Gefühl, ohne Gewissen; ein Mann, der kaltblütig Menschen abschlachtete; ein Mann, der für keinen Menschen etwas empfand, der nicht zur engeren Familie gehörte. Sie haßte ihn. Lotti wäre noch am Leben, wenn es ihn nicht gäbe.
Wenn es ihn nicht gäbe, wäre Lotti bei Keith und Toki in York.
Wenn es ihn nicht gäbe, hätte König Guthrum sie töten lassen.
Sie schloß die Augen. Der Schmerz war zu groß, die Ungewißheit zu erdrückend, um Antworten in ihrer Seele zu finden. Sie wollte einschlafen und nie wieder aufwachen. Lotti war tot. Ihr Leben hatte seinen Sinn verloren. Es gab keinen Grund mehr für sie, weiter zu atmen.
Erst sehr spät in der Nacht wurde Egill vermißt.
Horkel rüttelte Magnus wach, erlöste ihn aus einem grauenvollen Alptraum, in dem keine Ungeheuer ihn bedrohten, aber eine unendliche Leere ihn umfing, seine Seele zu ersticken drohte.
Er fuhr hoch, schüttelte das Grauen ab.
»Magnus, schnell! Egill ist fort.«
Magnus starrte den Gefährten verständnislos an. »Mein Sohn ist fort?« wiederholte er mit gefurchter Stirn. Er hatte nicht ein einziges Mal an seinen Sohn gedacht. Eine Welle der Angst durchflutete ihn.
Das war zuviel.
»Komm, beeil dich! Der Junge wurde nicht mehr gesehen, seit wir heute nachmittag mit Zarabeth zurückgekehrt sind. Wahrscheinlich denkt er, er habe Schuld an Lottis Tod.«
Magnus warf die Decke beiseite, sein Herz hämmerte so laut, daß er glaubte, es würde ihm aus der Brust springen. Immer wieder dachte er: Nicht Egill, nicht auch noch mein Sohn. Nein. Das ertrage ich nicht. Nicht einmal die Götter konnten ein solches Opfer von ihm verlangen.
Er ließ Zarabeth liegen, ohne zu wissen, ob sie begriff, was los war. Er mußte seinen Sohn finden.
Bis zum Morgengrauen hatte jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jeder Sklave die Gegend um Malek systematisch abgesucht. Keine Spur von Egill.
Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt.
Als Harald und Helgi mit Mattias und Jon und einem halben Dutzend Männer ankamen, war Magnus so erschöpft, daß er kaum noch sprechen konnte. Sein Vater trat an ihn heran, suchte den Blick seines Sohnes und zog ihn wortlos an seine Brust.
Magnus hatte völlig vergessen, daß er Ragnar zu den Eltern geschickt hatte. Er lehnte sich müde an den Vater. Und mit einem Mal fiel ihm auf, daß er der Größere von beiden war. Sein Vater war mit den Jahren ein wenig geschrumpft. Seltsam, daß ihm das gerade jetzt auffiel. Dennoch war Harald immer noch ein starker Mann, und Magnus fühlte, wie etwas von der Kraft des alten Mannes auf ihn überging. Er weinte nicht. Er hatte keine Tränen, keine Empfindungen mehr.
Er löste sich aus der Umarmung und sagte gefaßt: »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, Vater. Ich bin froh, daß Ihr da seid. Mutter, bitte kommt herein. Ingunn wird ...« Sein Gesicht verhärtete sich, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich hoffe, Ihr seid gekommen, um sie abzuholen.«
Helgi legte ihre Hand auf den Arm ihres Sohnes. »Wir nehmen sie zu uns. Doch nun laß uns ins Haus gehen, Magnus.«
Mattias schloß seinen Bruder kurz in die Arme, ohne ein Wort zu sagen. Jon sah Magnus an und schüttelte den Kopf.
Ja, es war zu viel, einfach zu viel.
Die Anwesenheit seiner Familie war ihm ein Trost. Dadurch wurden er und seine Leute abgelenkt. Er sah, wie Ingunn sich ihrer Mutter an die Brust warf und bitterlich schluchzte. Er wandte sich ab und sagte zu seinem Vater: »Möchtest du einen Krug Bier?«
»Ja, das ist eine gute Idee.«
Helgi hörte sich Ingunns endlose Flut von Klagen und
Vorwürfen an. Dann schob sie ihre Tochter von sich und unterbrach sie
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