Im Schatten der Mitternachtssonne
Handrücken einen harten Schlag ins Gesicht. Mit einem Schmerzensschrei stürzte sie zu Boden.
Magnus trat dicht an sie heran und bohrte seine Blicke in sie. Sie hielt sich die Wange, und in ihren Augen stand Haß, aber auch ein gehöriges Maß an Angst.
Wieder dachte er daran, daß Horkel beinahe die gleichen Worte gesagt hatte, doch aus Ingunns Mund vermochte er sie nicht zu ertragen; ihre Stimme war so haßerfüllt und voll tödlichem Gift. »Geh mir aus den Augen. Ich lasse unserem Vater noch heute eine Botschaft zukommen. Er wird dich holen lassen. Ich will dich nicht länger sehen.« Seine Worte waren nicht zuletzt deshalb so unheilvoll, weil er sie mit tödlicher Ruhe aussprach. Ingunn rührte sich nicht. Sie hatte Angst.
Cyra, die nicht dumm war, trat schweigend in den Hintergrund.
Horkel hatte Zarabeth bereits ins Langhaus gebracht. Er legte sie auf Magnus' Bett.
Magnus nickte ihm zu, und Horkel ließ ihn allein.
Allmählich erlangte Zarabeth das Bewußtsein, ihr Verstand war benebelt. Ihr war sehr kalt. Sie öffnete die Augen, dann stützte sie sich auf die Ellbogen. Magnus saß auf dem Bett neben ihr.
»Was ist geschehen? Wieso sind meine Haare naß? Mein Gesicht tut weh. Hast du mich geschlagen?«
»Ja, ich mußte es tun. Entschuldige.«
Sie spürte ihre nassen Haare schwer auf den Schultern und im Rücken, spürte die rauhe Wolldecke auf ihrer Haut. Sie war nackt, hatte aber frische Tücher zwischen den Beinen. Wie kam das? Hatte er die Tücher gewechselt? Sie fiel nach hinten, zog die Wolldecke bis zum Hals. Magnus blickte sie weiterhin schweigend an.
Sie runzelte die Stirn, konnte sich nur schwach erinnern. Und dann stand ihr alles klar vor Augen.
»Wo ist Lotti?«
Sein Gesicht war versteinert.
»Wo ist Lotti?«
»Lotti ist tot.«
Sie sprang auf, warf die Decke von sich, ihre Hände griffen nach ihrem Gewand. Sie schüttelte ihn, trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. »Wo ist sie?«
Sie wußte es. Tief im Innern wußte sie es.
Magnus hielt ihre Handgelenke fest und zwang sie, sich zu setzen. Ihre Brüste hoben und senkten sich schwer.
»Es tut mir leid, Zarabeth«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. Doch sie hörte ihn nicht, weigerte sich, seinen Schmerz wahrzunehmen.
Aber sie wußte, daß er die Wahrheit sprach. Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ist sie ertrunken?«
»Ja. Die Strömung ist an der Stelle ziemlich heimtückisch. Und es gibt Wälder von Schlingpflanzen, die einen erwachsenen Mann in die Tiefe ziehen können. Wir konnten sie nicht finden. Sie ist so klein, weißt du.«
Sie wandte ihr Gesicht ab. Sie erstarrte innerlich zu Eis und verschloß sich vor ihm. Und das konnte er nicht ertragen.
»Zarabeth, bitte.«
Sie reagierte nicht.
Plötzlich wandte sie sich ihm zu, starrte ihn an und begann zu lachen. Ein häßliches, heiseres, hohles Lachen. Lachend stieß sie die Worte hervor: »Sie hat versucht, dich zu retten! Sie dachte, du bist am Ertrinken! Die Kleine dachte nur daran, dich zu retten! Bei allen Göttern, das ist völlig verrückt! Warum bist du nicht ertrunken? Warum? Ich hasse dich! Du hast sie umgebracht, du wolltest ihren Tod, du . . .«
Die Pein zerschnitt ihr das Herz. Unsicher kam er auf die Beine. Ihr Lachen erstarb plötzlich. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen dunkel und leer. Dann schlossen sich ihre Lider, und sie wandte sich von ihm ab. Bedrückt zog er die Decke über sie und verließ die Kammer.
Horkel wartete draußen auf ihn. »Ist die Frau in Ordnung?«
»Nein.«
Magnus fuhr beim ersten Klagelaut hoch. Das Schluchzen war durchdringend und herzzerreißend. Zu seinem Erstaunen war es seine Tante Eldrid, die ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und ihr Leid und ihre Trauer hinausschrie und dabei ihren Oberkörper hin und her wiegte. Er ging zu ihr, zog sie von der Bank hoch und legte seine Arme um ihren knochigen Rücken.
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Dann ließ Magnus sie los und führte sie zu seinem Armstuhl. »Ruh dich aus«, sagte er. »Es tut mir leid. Aber wir haben alles getan, um sie zu finden.«
Zu Ragnar gewandt sagte er: »Geh zu meinem Vater und sag ihm, was geschehen ist. Sag ihm ...« Er machte eine kurze Pause, die Worte fielen ihm sichtlich schwer. »Sag ihm, er möge bald kommen und Ingunn von hier fortbringen.«
Ragnar ging. Ingunn nahm wie gewohnt ihre Arbeit wieder auf, mit versteinertem Gesicht und vom Weinen geröteten Augen. Alles in ihr war starr, jedes Gefühl war aus ihr gewichen, nur
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