Im Schatten der Mitternachtssonne
haben wollte . . .
Plötzlich wollte Zarabeth nicht sterben. Lotti war tot, der einzige Mensch in ihrem Leben, der sie wirklich brauchte, der von ihr abhing, der sie rückhaltslos liebte, und dennoch: Zarabeth wollte nicht sterben. Sie wollte nicht im Nichts versinken, sie wollte ihr Leben nicht verlieren, es war zu früh. Und sie schrie gellend in ihrer Todesangst: »Nein, Magnus, töte mich nicht! Ich lasse nicht zu, daß du mich tötest! Ich will nicht sterben!«
Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, sich zu befreien, denn die Worte, einmal ausgesprochen, wurden wirklich, so wirklich wie ihr bevorstehender Tod. Plötzlich warf sie sich auf ihn, mit geballten Fäusten, und er verlor beinahe das Gleichgewicht. Ihre Fäuste trommelten auf seinen Kopf, in sein Gesicht. Sie schrie ihn an, wieder und wieder, außer sich: »Nein! Du darfst mich nicht töten! Ich will nicht sterben!«
Magnus blieb erstarrt stehen. Er spürte ihre Fäuste, spürte den Schmerz ihrer Schläge, aber es bedeutete nichts. Ihre Worte ... Er sah sie nur an. Er packte ihre Handgelenke, sagte immer noch nichts. Schließlich bezähmte sich Zarabeth, stand keuchend und mit angstgeweiteten Augen vor ihm.
»Glaubst du wirklich, ich will dich töten?« fragte er langsam, seine Augen suchten forschend in ihrem Gesicht, studierten ihre Regungen, und in seiner Stimme lag soviel Schmerz, daß er ihre Angst durchdrang, und sie registrierte dies. Doch nein, er verspottete sie nur. Er würde sie töten, töten ... Sie durfte ihm nicht glauben.
»Ja! Aus welchem anderen Grund schleppst du mich aus dem Haus und rufst nach Rollo? Du willst mich umbringen.«
Er sah sie wieder an. Dann hob er die Hand, sie zuckte in Erwartung seines Schlages zurück, doch er legte seine flache Hand an ihre Wange und sagte eindringlich: »Ich werde dich nicht töten. Wenn du stirbst, stirbt ein Teil von mir. Nein, Zarabeth, ich werde dich nicht töten. Ich schwöre es.«
Langsam nickte sie. Sie glaubte ihm jetzt, wußte, daß er die Wahrheit sprach. Plötzlich wußte sie, daß sie ihm immer geglaubt hatte. Es hatte ihn große Mühe und Überredungskunst gekostet, ihr in York das Leben zu retten. Warum sollte er es ihr jetzt nehmen? Sie stellte ihren Widerstand ein. Schaudernd wurde sie sich ihrer Panikreaktion bewußt. Er nahm sie an der Hand und führte sie in die Hütte des Schmieds. Beim Eintreten schlug ihnen sengende Hitze von dem runden, gemauerten Schmelzofen entgegen. Zarabeth wich zurück.
»Komm! Du gewöhnst dich daran.«
Rollo war ein dunkler Mann mit dichtem, schwarzen Bart, der auf einem Auge schielte, was ihm ein bedrohliches, wildes Aussehen gab. Seine Beine waren zu kurz geraten, doch sein Oberkörper war kraftvoller gebaut als der von Magnus. Seine Arme waren stark wie Aste eines alten Baums. Er lag auf den Knien vor dem Schmelzofen und pumpte mit dem großen Blasebalg aus Leder Luft in die Glut, um sie noch mehr anzufachen. Er hob den Kopf, sah Magnus schweigend an, dann Zarabeth. Langsam erhob er sich und händigte Magnus ein Schwert aus.
»Es ist fertig und unversehrt, wie am ersten Tag, als ich es vor zwei Jahren für dich geschmiedet habe. Machen wir uns wieder auf die Suche nach Egill?«
Magnus nahm das Schwert entgegen. »Ragnar ist mit zwölf Männern aufgebrochen. Ich gehe bald wieder hinaus. Doch zuerst möchte ich, daß du das Eisen von ihrem Hals entfernst.«
Rollo sagte nichts. Er hob die Hand, um Zarabeths Haar beiseite zu schieben. Doch Magnus kam ihm zuvor. Er nahm ihr Haar mit beiden Händen, hob es hoch und entblößte dabei ihren Nacken. Rollo tastete das Eisenband ab, fand den Saum und nickte.
»Du mußt ganz ruhig halten, Herrin, sonst verlierst du möglicherweise deinen hübschen Kopf.«
Zarabeths Herz schlug hart. Er gab ihr die Freiheit. Sie blickte ihn an, verständnislos.
»Knie dich hin! Magnus, du hältst ihr Haar zurück, damit das Rot mich nicht blendet.«
Es war schnell vorüber. Sie zuckte mit keiner Wimper, als der schwere Eisenhammer auf das Eisenband niedersauste, einmal, zweimal, und beim dritten Mal sprang es entzwei. Sie blieb auf den Knien, den Hals auf dem Steinblock gebettet, ihre Augen waren geschlossen. Als sie hörte, wie das Eisenband klirrend zu Boden fiel, flüsterte sie: »Ich fühle mich so leicht.« Magnus half ihr beim Aufstehen. Ihre Finger tasteten nach ihrer Kehle. Ihre Haut war gerötet und aufgeschürft, doch das hatte keine Bedeutung. Sie wollte ihren Hals so spüren, wie er einst war.
Sie
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