Im Schatten der Schlange
seiner Getreuen ritt er in der Morgendämmerung ostwärts, auf Darain zu.
2.
Nottr starrte schweigend aus dem Fenster des Tempelturms über die Dächer der toten Stadt. Sein narbengezeichnetes Gesicht war verschlossen. Hilfloser Grimm ließ ihn die Fäuste ballen.
Thonensen stand nicht weit von ihm. Sein bleiches Gesicht und das weiße Haar schimmerten in der Düsternis des Raumes. Seine Miene war abwesend, sein Kopf leicht geneigt, so als lauschte er in sich hinein.
Calutt, der Schamane, kauerte auf dem Boden – in sich selbst versunken.
Lella, die Tigerin, stand an der Tür mit der Axt in der Faust und lauschte. Die Tür war weit offen, und über die dunklen Treppen herauf erklangen die leisen, scharrenden Schritte von Baragg und Keir. Die beiden Krieger aus Nottres Viererschaft tauchten bald darauf aus der Dunkelheit auf. Nottr wandte sich ihnen mit fragender Miene zu.
Baragg schüttelte den Kopf. »Zwanzig Männer könnten diese Steintür nicht bewegen, wenn sie Platz hätten.«
Nottr unterdrückte einen Fluch. Lella sagte beruhigend: »Mein Bruder und seine Quaren werden diesen Narren Einhalt gebieten…«
»Es ist Ottans Werk!« rief Nottr grimmig. »Er hat sie alle aufgewiegelt und diesem Wahnsinn…!«
Thonensen erwachte aus seiner Entrücktheit. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Hordenführer. Diesen Einfluß hat der Kirguise nicht. Sein Beutezug in Ugalien hat allen gut gezeigt, daß er nur ein Großmaul ist. Du hast die Sympathien der Stammesführer verloren. Schon lange vor Darain. Der Urojenhäuptling hat schmerzlich genug die Wunde berührt: Noch nie zuvor sind so viele Lorvaner so weit gewandert für so wenig Beute.
Gewiß, das ist nicht deine Schuld, Nottr. Die Caer und ihre Teufelspriester hatten das ganze Land längst ausgeplündert. Und Darain war die größte Enttäuschung. Unter Amorats als Herrschaft besaßen die Menschen nichts mehr. Amorats Macht war Duldamuur, sein Dämon. Und Duldamuurs Macht und Reichtum war das Leben – nichts, was die Barbaren besonders interessierte. Nicht nur, daß sie untätig in diesen Mauern hocken und sich nach ihren geliebten Wildländern sehnen, hast du ihnen auch noch untersagt, sich mit den gefangenen Darainern zu amüsieren.« Er schüttelte den Kopf. »Als Hordenführer mußt du ein Alptraum für sie gewesen sein!«
»Die Vernunft sollte ihnen sagen…«, begann Nottr heftig.
»Pah, die Vernunft«, wiederholte Thonensen wegwerfend. »Wann ließ je ein Lorvaner Vernunft walten, wenn er auf Kampf und Beute aus war?«
»Die Schamanen waren auf meiner Seite…«
»Nur Calutt war wirklich auf deiner Seite. Für die anderen zählte die Horde und die Zeichen ihrer Geister in ihren vom Alppilz umnebelten Köpfen. Sie wissen, daß die Horde auseinanderbricht, wenn sie nicht einen starken Führer hat, für den alle Zeichen sprechen…«
»War ich das nicht?«
»Zuerst ja, sonst wären sie dir nicht so weit gefolgt, Freund.« Der Magier lächelte dünn. »Aber du hast diese Träume. Du willst gegen Priester und Dämonen ziehen… immer weiter fort von den Wildländern… Wen wundert es, daß sie auf die Idee gekommen sind, daß du selbst von einem Dämon besessen bist?«
Nottr starrte den Magier an.
»Du hättest nicht so blind sein dürfen und die Zeichen sehen müssen«, fügte Thonensen hinzu. »Die Unzufriedenheit…«
»Hast du die Gefahr erkannt?« erwiderte Nottr heftig. »Hat einer von euch mich gewarnt?«
»Calutt hat es mehrmals getan«, antwortete der Magier ruhig. »Aber du hast seine Warnungen in den Wind geschlagen. Und hättest du geduldet, daß ich dir Ratschläge darüber gebe, wie du deine Horde führen sollst?«
Nottr wandte sich grimmig ab. »Das ist nun das Ende«, murmelte er.
Thonensen nickte. »Wie ich deine Krieger kenne und ihren Eifer beim Töten…«
Nottr fuhr herum. »Sie werden nicht wagen, Hand an mich zu legen…!«
»Das halte ich nicht für unmöglich. Sie haben das Fanchen-Spiel lange entbehren müssen. Das haben sie dir nicht vergessen. Und daß du dich mit den Caer zusammengetan hast…«
»Die Horde wäre niemals stark genug gewesen, es mit dieser Armee aufzunehmen!«
Thonensen zuckte die Schultern. »Mir brauchst du nichts zu erklären, Nottr. Du bist kein Barbar mehr, und deshalb hast du verlernt, auf das zu horchen, was in den Herzen deiner Krieger vorgeht. Du hättest sie verlassen müssen, bevor der Hunger und die Unzufriedenheit in die Stadt kamen…«
»Und was tun?« unterbrach ihn Nottr. »Allein
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