Im Schatten der Schlange
für ihre abergläubischen Seelen zu unheimlich waren.
Außerhalb der Stadt regte sich nichts. Die Jagdtrupps der Lorvaner würden – wenig erfolgreich wie immer in den letzten Tagen – erst in der Abenddämmerung zurückkehren. Die Feuer der Caer, die von hier oben aus am nordwestlichen Horizont an den Rauchfahnen zu erkennen gewesen waren, waren seit der Nacht erloschen. Es sah in der Tat aus, als wären die Caer abgezogen. Aber wohin, bei Tasman! Hatte O’Braenn seinen Plan aufgegeben, Nottr mit Gewalt an seine Seite zu holen?
Nottr fluchte.
»Wo ist Dilvoog?« fragte er dann unvermittelt.
»Wenn er Glück hatte, bei O’Braenn«, erklärte Thonensen. »Wenn nicht…« Er zuckte die Schultern. Die Antwort war leicht zu erraten.
»Tasmans Fluch über diese Narren!« machte Nottr seinem Herzen Luft. »Zerstören und töten. Sonst haben sie nichts im Sinn…!«
»Urgat hat eben den Tempel betreten«, rief Lella von einem der Fenster. »Silberhaar Kraha war an seiner Seite und ein Dutzend anderer, die ich nicht erkennen konnte…«
»Dann beraten sie jetzt über uns«, murmelte Nottr, erleichtert darüber, daß die Zeit des hilflosen Wartens ein Ende nahm.
Keirs Rufe brachten sie alle in Bewegung. Sie eilten die fast nachtdunklen Treppen hinab und standen schließlich heftig atmend an der steinernen Tür.
»Ich glaube, sie beraten«, sagte Keir.
Es dauerte eine Weile, bis alle sich soweit beruhigt hatten, daß sie den Atem anhalten konnten, denn nur solcherart konnten sie die Stimmen der Versammlung durch die steinernen Mauern vernehmen. Aber es blieb dennoch nur ein Murmeln. Nur gelegentlich hob sich eine Stimme kräftig genug, daß sie die Worte verstehen konnten.
Immerhin bekamen sie mit, daß Urgat heftig dawiderredete und als neuer Hordenführer allein entscheiden wollte, was mit den Gefangenen geschehen sollte. Aber sie waren offenbar nicht mehr bereit, ihrem Anführer alle Entscheidungsgewalt zu überlassen – zumindest nicht in diesen Dingen. Zuletzt sah es so aus, als wollten sie Urgat lediglich seine Schwester Lella überlassen. Über Calutt sollten die übrigen Schamanen entscheiden. Doch die anderen sollten über die Klinge springen. Vor allem Ottan war erpicht darauf, mit Nottr abzurechnen. Er haßte ihn seit der Auseinandersetzung am Broudan-See.
Schließlich machte sich eine Schar Krieger daran, die Tür zu öffnen und die Gefangenen herauszuholen.
»Kommt nur! Ich drehe euch mit bloßen Händen den Hals um!« knurrte Nottr.
Calutt und Thonensen drückten sich an den Stein. Draußen stemmten sich die Krieger dagegen, um ihn beiseite zu schieben. Er erbebte und ruckte. Licht fiel durch einen schmalen Spalt. Sie hörten den Tumult draußen nun ganz deutlich. Es waren vor allem Schmährufe, die den Männern an der Tür galten, die ganz offenbar Schwierigkeiten hatten.
Die Tür klemmte. Die Männer ächzten und stöhnten und fluchten und beschimpften einander, doch die Tür wollte trotz aller Anstrengungen nicht weichen. Im Gegenteil – selbst der schmale Spalt schloß sich wieder.
»Sieht aus, als wären wir recht sicher hier«, bemerkte Baragg.
»Sie werden mit mehr kommen«, meinte Lella weniger hoffnungsvoll.
»Mit wie vielen sie auch kommen, auf diese Weise werden sie die Tür niemals öffnen«, sagte Thonensen gepreßt. Er schwankte ein wenig. Calutt stützte ihn rasch. Aber Thonensen schüttelte ihn ab. »Keine Angst, ich bin nicht schwach. Es ist nur der Pilz…«
»Hast du ihm Alppilz gegeben?« fragte Nottr überrascht.
»Ein wenig… aber er verträgt nicht viel.«
»Was tut er?«
»Er hält die da draußen davon ab, die Tür zu öffnen…«
»Er allein?« fragte Lella ungläubig.
»Er ist ein großer Magier«, stellte Calutt anerkennend fest. »Er weiß um die magische Macht des Steins. Da draußen sind alle in seiner Macht… alle, die den Stein berühren wie er…«
»Sie gehorchen ihm?« entfuhr es Nottr.
Thonensen schüttelte langsam den Kopf, was in der Dunkelheit niemand sehen konnte. Die Anspannung zehrte an ihm. Sprechen bedeutete Ablenkung, so zischte er hastig: »Sie haben vergessen, was sie wollten.«
Calutt zischte warnend. Der Lärm in der Halle wurde heftiger. Dann begann der Türstein erneut zu erzittern, bewegte sich knirschend eine Handbreit hin und her.
»Jetzt versuchen sie es alle«, meinte Calutt.
»Sie behindern sich mehr, als es nützt«, sagte Thonensen. Dann lachte er unterdrückt. »Sie sind ziemlich wütend, und langsam beginnt ihnen
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