Im Schatten der Tosca
Marina war das Allerschönste, dass Mariana sie auf Russisch sang. Die Laute schmiegten sich der Musik an, besonders bei den großen Chorszenen entstand dadurch ein farbiger, atmosphärisch ausdrucksvoller Klangteppich. »Russisch satt, endlich einmal wieder«, schrieb Mariana an Pietro.
Auch wenn Künstler wie Marcello Rainardi und Georges Goldberg sie baten, machte sie sich mit der alten Begeisterung auf die Reise. Pietro unterstützte sie dabei. »Die Katze lässt das Mausen nicht. Zum Glück. Ich lasse meine Patienten auch nicht sausen. Zudem: Ein paar Raritäten aus Amsterdam, Paris oder Schanghai fehlen ganz einfach noch in der Wohnung.«
Mariana war froh über Pietros Zuspruch, so richtig bereit zur endgültigen Sesshaftigkeit fühlte sie sich noch nicht. Aber wenn sie dann wieder daheim saß, beim Frühstück, und ihren Tee schlürfte, überkam es sie doch: »Ich werde noch ein richtiges Familientier.« Zufrieden lehnte sie sich in ihrem Korbstuhlzurück, das morsche Geflecht ächzte, die Scheiben der Glasveranda waren an einigen Stellen blind, auf der anderen Seite des Tisches erhitzten sich »ihre Männer« über den sträflichen Leichtsinn ihres Lieblingsvereins »Lazio Rom«. »Diese blasierten Idioten, sich ein paar Sekunden vor dem Schlusspfiff noch ein Tor unterjubeln lassen!«, schnaubte Massimo und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die silbernen Löffelchen in den hauchfeinen Tassen klirrten. In einem solchen Augenblick gab es für Mariana nur die eine Wahrheit: »Eigentlich, wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich nirgendwo so wohl wie hier zu Hause.«
Eines Tages meldete das Hausmädchen, ein Padre Ironimo wünsche die Signora zu sprechen. Ein munteres Dickerchen mit einem wettergegerbten Kugelkopf mit blanker Tonsur kam schnellen Schrittes ins Zimmer, stürmte fast auf Mariana zu und packte überschwänglich ihre Hände: Wunderbar, göttlich sei ihr Gesang, was für ein überwältigendes Glück für ihn, ihr leibhaftig gegenüberstehen zu dürfen. Dann aber unterbrach er sich selbst: »Du lieber Schreck! Wie oft mögen Sie das schon gehört haben? Für so ein Gerede müssen Sie sich nicht auch noch zu Hause überfallen lassen. Was will der Kerl denn, werden Sie denken!« Mariana lachte, offenbar konnte ihr ungebetener Gast Gedanken lesen, aber sie fand ihn nett.
Es ging um seinen Schützling, ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, ein Wunderwesen, so schien es. »Sie steckt voller Musik. Unlängst habe ich sie ins Verdi-Requiem mitgenommen. Seitdem ist sie wie verzaubert, irgendetwas ist mit ihr passiert, sie sagt mir nicht, was, aber es hat mit Ihnen zu tun. Sie müssten sie sehen. Ich schwöre Ihnen, sie wird Ihnen gefallen.«
Mariana machte eine abwehrende Handbewegung, aber ehe sie etwas sagen konnte, fuhr Padre Ironimo in einem anderen Tonfall fort, ernst und besorgt: »Es geht ihr nicht gut, sie grämt sich schrecklich um ihren Vater, zu sehr, finde ich. Erschwebt immer noch zwischen Leben und Tod, vielleicht haben Sie von dem Fall Barbaroli gelesen.« Mariana erinnerte sich: ein versuchter Raubüberfall auf die Villa eines schwerreichen Bauunternehmers, bei dem sich der Chauffeur der Familie heldenhaft vor seinen Herrn geworfen hatte und dabei selbst lebensgefährlich verletzt worden war.
»Das ist ihr Vater, der Chauffeur. Seine Frau und ich sind aus dem gleichen Dorf. Wir kommen alle aus dem Süden. Ich bin seit ein paar Jahren hier, und seitdem sehen wir uns oft. Eine liebe Familie. Ja, und die Tochter, die singt wie eine Lerche. Könnten Sie ihr nicht Unterricht geben?«, meinte er treuherzig.
Endlich kam Mariana zu Wort: »Um Himmels willen, nein. Ich habe noch nie im Leben Unterricht gegeben. Dazu bin ich viel zu viel von zu Hause fort. Und auch viel zu ungeduldig. Sicher würde ich meine Schüler erwürgen. Gibt’s was Schlimmeres als Gesangsübungen? Jede Kreissäge ist dagegen ein Ohrenschmaus!« Aber sie hatte nicht mit der warmherzigen Beredsamkeit gerechnet, mit der dieser liebe Seelenhirte sein Schäfchen anzupreisen wusste. Schließlich sagte sie ermattet: »Ja gut, dann kommen Sie morgen mit der Kleinen vorbei. Wie heißt sie denn?« Der Padre strahlte: »Elia.«
So trat Elia in Marianas Leben.
Elia
Elias Familie kam tatsächlich aus dem Süden, Padre Ironimo hatte das ganz richtig gesagt, dabei aber doch vereinfacht. Denn die Einwohner von Salerno fühlten sich eher dem geordneteren Norden Italiens zugehörig als der von der Sonne gebrannten Stiefelspitze.
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