Im Schatten der Vergeltung
Bett einer alten, kranken Frau sitzen mochte.
»Wenn sie wenigstens von früher erzählen würde«, sagte Frederica und seufzte verhalten. »Ich würde gern etwas über das Leben im Hochland erfahren, aber immer, wenn ich sie frage, dann sieht sie mich an, als würde sie mich gar nicht bemerken. Ich weiß dann gar nicht, ob sie mir überhaupt zugehört hat. Dabei war sie zuerst so freundlich zu mir.«
»Deiner Großmutter geht es nicht gut, Frederica«, versuchte Maureen Lauras Verhalten zu erklären. »Sie muss sich schonen, denn das Sprechen strengt sie an. Es hat nichts mit dir zu tun.«
Maureen und Laura sprachen ebenso wenig über die Vergangenheit, wie Laura sich über die Zukunft äußerte. Der Herbst war nicht mehr fern, und Maureen machte sich ernsthafte Sorgen. Der Husten ihrer Mutter hatte sich mit den fallenden Temperaturen verschlimmert, und sie hoffte, Laura würde endlich zustimmen, ihr restliches Leben im klimatisch angenehmeren Cornwall zu verbringen. Philipp gegenüber hatte sie davon noch nichts erwähnt, denn sie befürchtete seine Ablehnung. Sie konnte ihre kranke Mutter aber unmöglich während der kalten, stürmischen Monate in Schottland zurücklassen.
A n einem regnerischen Tag machte Maureen einen neuen Versuch, ihre Mutter zu überzeugen, mit ihnen zu gehen, zumal Philipp ihre baldige Abreise angedeutet hat. Zur Parlamentseröffnung im November musste er spätestens wieder in London sein.
»Mutter, der Winter kommt bald. Du kannst in diesem Loch nicht bleiben. Bitte, komm mit uns nach Cornwall! Die Wintermonate sind dort mild, nur selten gibt es Frost oder Schnee. Du wirst sehen, in wenigen Wochen bist du wieder gesund.«
Lauras Miene verschloss sich, zwei steile Falten zogen sich von den Mundwinkeln zu ihrem Kinn. Sie wandte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn stumm. Ebenso hartnäckig weigerte Laura sich, einen Arzt zu konsultieren. Schließlich wusste sich Maureen keinen anderen Rat, als Philipp zu bitten, einen guten Mediziner zu finden und diesen zu Laura zu bringen. Philipp hörte sich um, und Mr. Baines empfahl einen Arzt, der in der Nähe des Charlotte Square seine Praxis betrieb. Es handelte sich um einen Schotten, der sich aber auch bei den Engländern einen guten Ruf als kompetenter Arzt erworben hatte. Philipp vereinbarte, ihn am folgenden Mittag mit der Kutsche abzuholen. Gemeinsam mit Maureen fuhren sie in die Altstadt und betraten die heruntergekommene Schenke. Entsetzt zog der Arzt die Luft ein, und während er die schmale Stiege zu Lauras Zimmer hinaufstieg, schüttelte er irritiert den Kopf.
»Ich weiß ja nicht, was feine Leute wie Sie mit armen Menschen zu schaffen haben.« Er rümpfte die Nase und zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. »Normalerweise begebe ich mich nicht in eine solche Umgebung.«
Philipp lächelte freundlich und verzichtete auf eine Antwort. Er würde den Arzt großzügig entlohnen, also sollte er seine Pflicht tun und keine Fragen stellen.
Nach anfänglichem Sträuben erklärte sich Laura bereit, sich untersuchen zu lassen. Sie bestand aber darauf, mit dem Arzt allein zu sein. Maureen und Philipp warteten in der schummrigen Schankstube, tranken dunkles Bier und ignorierten die verwunderten Blicke der anderen Gäste. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Arzt herunterkam und sich an ihren Tisch setzte. Mit gerunzelter Stirn sah er von Maureen zu Philipp.
»Die Frau ist todkrank«, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Ihre Lunge ist vollkommen zerstört. Mit jedem Hustenanfall zersetzt sie sich weiter. Mrs Mowat weiß über ihren Zustand Bescheid, sie ahnt schon länger, dass ihre Zeit abgelaufen ist.«
Maureen schlug sich eine Hand vor den Mund.
»Oh, nein! Ich dachte nicht, dass es so schlimm um sie steht. Kann man denn gar nichts dagegen tun?«
Der Arzt war über ihre Reaktion irritiert.
»Leider nicht. Unter dieser Krankheit leiden die meisten Arbeiter der Kohlengruben in diesem Land. Ich denke aber nicht, dass die Frau da oben«, er deutete mit dem Daumen zur Zimmerdecke, »jemals in ihrem Leben in einem Bergwerk gearbeitet hat, oder?«
Maureen schüttelte den Kopf, und Philipp erklärte knapp:
»Sie hat ein arbeitsreiches Leben voller Entbehrungen hinter sich. Gibt es denn gar keine Medizin zur Heilung?«
»Es tut mir leid, aber bislang ist nichts dergleichen bekannt. Ich werde Ihnen aufschreiben, welche Säfte die Schmerzen lindern und die Hustenanfälle vorübergehend verringern können. Bald kommt der Winter,
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