Im Schatten der Vergeltung
einem Engländer verheiratet, England ist mein Zuhause, und ich habe englische Freunde. In den Adern deiner Enkelin fließt englisches Blut. Ich habe keinen einzigen Tag des Lebens, das ich gewählt habe, bereut.«
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber Maureen wollte Laura gegenüber nicht zugeben, wie schwer es gewesen war, in England Fuß zu fassen und mit welchen Schwierigkeiten sie noch heute zu kämpfen hatte. Das würde ihre Mutter nur in ihrer Abneigung gegen alles Englische bestätigen.
»Die Engländer sind Menschen wie du und ich«, fuhr sie etwas sanfter fort. »Sie lachen, sie weinen und sie haben Probleme – ebenso wie alle Menschen auf der Welt.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich sehe mal, ob die Wirtin eine anständige Flasche Schnaps für uns hat. Ich brauche jetzt etwas Stärkeres.«
Als sie nur wenig später mit einem Krug Whisky in die Kammer zurückkehrte, fand sie ihre Mutter hustend und würgend auf dem Bett. Ihr Zorn verflog. Sie kniete sich neben Laura, strich über ihren Rücken und hielt ihre Hand, bis der Anfall vorüber war.
»Das ist eine wirklich hartnäckige Erkältung«, erklärte Laura den Husten. »Ich mache mir nachher einen Umschlag aus heißen, zerstampften Kartoffeln.«
»Was meint der Arzt?« Maureen verbarg nicht ihre Sorge. Laura wich ihrem fragenden Blick aus, und in Maureen stieg ein Verdacht auf. »Du hast doch einen Arzt konsultiert?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Ach was, diese Quacksalber verlangen nur einen Haufen Geld und haben ohnehin keine Ahnung. Es ist nur eine harmlose Erkältung.«
Maureen gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie kannte diesen Husten, der sich bellend aus der Kehle rang. Viele der Arbeiter in den cornischen Zinn- und Kupferminen litten an den gleichen Beschwerden. Der jahrelange Staub, tagaus, tagein metertief unter der Erde eingeatmet, löste langsam, aber sicher die Lunge auf. Die Bedauernswerten erlitten einen qualvollen Erstickungstod. Die Angst um die Mutter griff wie eine kalte Hand nach Maureens Herz.
»Komm mit mir in das Haus in der Neustadt, dort ist es warm und gemütlich, und du kannst in aller Ruhe wieder gesund werden.«
»Niemals!«
Demonstrativ drehte Laura ihr den Rücken zu, und Maureen beschloss, es für heute gut sein zu lassen. Laura hatte sich mehr geöffnet, als Maureen es erwartet hatte.
»Ich komme wieder, Mutter, das kannst du mir nicht verbieten, und ich werde dir deine Enkelin bringen. Sie hat ein Recht darauf, dich kennenzulernen.« Den Türknauf bereits in der Hand, wandte sie sich ein letztes Mal zu ihrer Mutter um. »Vielleicht gelingt es Frederica, dein verbittertes Herz zu erwärmen. Ich kämpfte ja bis heute vergeblich dafür.«
D ieses Mal verschonte Philipp Maureen mit Vorwürfen über ihre späte Heimkehr. Er brauchte seiner Frau nur ins Gesicht zu sehen, um zu erkennen, in welch schlimmer Verfassung sie war. Stumm breitete er seine Arme aus. Maureen lehnte ihren Kopf an seine breite Brust und fühlte sich wie ein Kind, das sich verirrt hatte und nun endlich heimgekehrt war. In diesem Moment waren alle Unstimmigkeiten vergessen. Philipp war ihr Fels in der Brandung, der Mann, in den sie sich vor siebzehn Jahre verliebt hatte, den sie noch immer liebte, bedingungslos vertraute und der immer an ihrer Seite war. Auch nach all den Jahren gab Philipp ihr eine Geborgenheit, die sie um nichts auf der Welt missen wollte, auch wenn das Feuer der Leidenschaft längst verglüht war. Dafür wollte sie auch gern Lady Esther und ihre aufgeblasenen Bekannten ertragen. Maureen lächelte glücklich. Plötzlich verstand sie, warum Philipp nicht gewollt hatte, dass sie nach Schottland reiste. Er hatte sie nur schützen wollen, hatte geahnt, dass Laura sie erneut verletzten würde. Trotzdem hatte er sie begleitet und tröstete sie. Dafür liebte sie ihn, und ihr wurde bewusst, dass sie lange nicht mehr derart intensiv für ihn empfunden hatte.
Nach dem Abendessen, bei dem Frederica die innere Anspannung ihrer Mutter bemerkte und sich erstaunlich still verhielt, berichtete Maureen von der Begegnung mit Laura. Als sie geendet hatte, legte Philipp die Fingerspitzen aneinander und betrachtete seine Nägel.
»Ich kann nachvollziehen, wie enttäuscht du bist«, sagte er langsam und ohne aufzusehen. »Wenn du jedoch ehrlich zu dir selbst bist – hast du von Laura ein anderes Verhalten erwartet? Nachdem deine Eltern jahrelang nichts von sich hören ließen, nicht auf deine zahlreichen
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