Im Schatten der Vergeltung
selbst tat alles, um Frederica eine liebevolle Mutter zu sein. Auch wenn es in letzter Zeit Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben hatte, war Maureen überzeugt, dass Frederica keinen Grund hatte, an ihrer Liebe zu ihr zu zweifeln.
Maureen wartete geduldig, bis Laura ihr karges Mahl beendet hatte, dann fragte sie: »Warum lebst du hier? Auf dem Brief war eine Adresse am Grassmarket angegeben, dort sagte man mir, du musstest fortziehen. Warum seid ihr überhaupt nach Edinburgh gegangen? Vater wollte doch nie in die Stadt.«
Laura sah ihre Tochter so lange an, dass sich Maureen fragte, ob sie ihre Fragen verstanden hatte. Schließlich sagte sie mit einem resignierten Unterton: »Nun gut. Wenn du schon einmal hier bist, dann kann ich dir auch alles erzählen. In wenigen Tagen wirst du an der Seite deines adligen Ehemannes in einer komfortablen Kutsche in dein sicher nicht weniger elegantes Heim nach England zurückkehren und an mich und Schottland keinen Gedanken mehr verschwenden.«
»Mutter, wie kannst du so etwas denken?«, begehrte Maureen auf. »Warum kannst du deinen Hass nicht endlich begraben? Culloden und alles, was damit zusammenhängt, liegt Jahrzehnte zurück! Wir sind ein Volk – ob Schotten, Engländer oder Waliser! Viel wichtiger ist es doch, dass ich in England mein Glück gefunden habe.« Sie konnte den Blick ihrer Mutter nicht deuten. Es war eine Mischung aus Abscheu, Bitterkeit und Verzweiflung. Schnell fuhr sie fort: »Ich bin aber nicht gekommen, um über die Vergangenheit zu diskutieren. Mich interessiert, wie es euch ergangen ist. Warum musste Vater sterben? War er krank?«
»Er hatte einen Unfall, oben in Beechgrove«, antwortete Laura bereitwillig. »Eines der Pferde ging durch, wahrscheinlich wurde es von einem Kaninchen erschreckt. John konnte nicht mehr rechtzeitig abspringen und die Kutsche begrub ihn unter sich. Seine Beine wurden zertrümmert, und er hatte sich das Rückgrat verletzt. Der Laird und die Lady waren zwar erschüttert und bezahlten den Arzt, als jedoch klar wurde, dass John nie wieder auf dem Kutschbock würde sitzen können, war es mit ihrer Wohltätigkeit schnell vorbei. Meine Arbeit als Küchenmagd rechtfertigte nicht mehr unsere Anwesenheit in der Kutscherwohnung, und einen Invaliden wollten sie nicht durchfüttern. Also gingen wir nach Edinburgh. Ich dachte, hier würde es für John leichter sein, eine Anstellung zu finden, doch niemand wollte einen alten Mann mit zwei lahmen Beinen beschäftigen. Ich will jetzt nicht aufzählen, wo und bei wem ich die schmutzigsten Arbeiten verrichtet habe, es gelang mir aber, uns über Wasser zu halten. Wir kamen schließlich so weit zurecht, um zwei große Zimmer am Grassmarket anzumieten, aber Johns Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Ich glaube, er hatte seinen Lebenswillen verloren. Wie du weißt, war dein Vater ein Hochländer durch und durch, der die Bens und Glens liebte und die Gegend niemals verlassen wollte. Das Leben in der Stadt raubte ihm die letzten Kraftreserven. Schließlich lag er nur noch da, aß nichts mehr und sprach kein Wort. Er beschloss, lieber zu sterben, als dieses armselige Leben zu fristen. Vor zwei Wochen schloss er für immer die Augen.« Laura machte eine Pause, und Maureen wagte nicht, etwas zu sagen. Schließlich fuhr sie fort: »Nach Johns Tod musste ich die Wohnung aufgeben. Sie war viel zu groß und zu teuer für eine Person. Ich bin eine alte Frau, mir reicht dieses Zimmer, bis ich meinem Mann folgen werde.«
Erschüttert hatte Maureen zugehört. Sie empfand Mitleid, gleichzeitig jedoch wunderte sie sich über Lauras Verhalten.
»Warum hast du mir nicht früher geschrieben? Wir hätten alles getan, das in unserer Macht steht, um euch zu helfen. Mein Gott, ihr seid meine Eltern!« Maureen atmete tief durch. »Wenn es auch für Vater zu spät ist – du kannst mit uns nach England kommen.«
Lauras Blick war so verächtlich, als hätte Maureen ihr zugemutet, einen Kübel mit Mist auszulöffeln.
»Bevor ich einen Fuß nach England setzte, sterbe ich lieber!«
Maureen schlug mit der Faust auf den wackligen Tisch. Ein Becher kippte um, und das Bier tropfte auf die Dielenbretter.
»Mutter, es ist schrecklich, was einst geschehen ist, aber heute regiert König George England wie auch Schottland. Daran können weder du noch ich etwas ändern. Du musst dich endlich mit den Begebenheiten abfinden und versuchen zu verzeihen. Nicht alle Engländer sind schlecht. Ich bin seit Jahren mit
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