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Im Schatten der Vergeltung

Im Schatten der Vergeltung

Titel: Im Schatten der Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Michéle
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vielen Jahren. Was dich angeht, Maureen: Ich wollte dich nie bekommen, ich konnte es aber nicht ändern. Ich habe meine Pflicht getan, habe dich ausgetragen und dich nicht ausgesetzt oder in einem Fluss ertränkt, was ich eigentlich vorgehabt hatte. Selbst während der Geburt betete ich dafür, dieses unerwünschte Balg in meinem Bauch würde keinen Atemzug machen, wenn es auf die Welt kam. Nun, es war nicht Gottes Wille, und so wurde ich Mutter, ob ich wollte oder nicht.«
    Maureens Magen krampfte sich vor Übelkeit zusammen, ein stechender Schmerz ließ sie nach Luft schnappen.
    »Ich war dir immer eine Last.«
    Sie war verwundert, wie ruhig ihre Stimme in dieser Situation klang. All das, was Maureen ihr Leben lang gespürt hatte, hatte Laura mit wenigen und brutal offenen Worten bestätigt.
    »Das kann ich nicht leugnen.« Laura sprach ruhig, es schien, es wäre sie erleichtert, sich endlich nicht mehr verstellen zu müssen. »Das ganze Leben war eine einzige Last, und die Gewissheit, dass es bald zu Ende sein wird, hat für mich nichts Erschreckendes. Ich bin alt und krank. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe? Ich will dich auch heute nicht, so wie ich dich nie gewollt habe.«
    S päter wusste Maureen nicht mehr, wie sie nach draußen gelangt war. Erst als sie sich an die feuchte Hauswand lehnte und die Nässe durch ihre Kleidung hindurch an ihrem Rücken spürte, begann sie zu zittern. Maureen würgte, doch kein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Sie war wie erstarrt. Nimm dich zusammen!, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Du hast es immer geahnt. Trotzdem überkam Maureen ein Gefühl, als würde ihr das Herz mit glühenden Zangen aus der Brust gerissen. Ihre eigene Mutter hatte ihren Tod gewünscht! Sie zögerte, ob sie zu Laura zurückkehren und ihren Mantel holen sollte, denn der feuchte Nebel hatte ihr dünnes Kleid inzwischen durchnässt, und sie fror entsetzlich. Aber sie hatte jetzt nicht mehr die Kraft, Laura erneut gegenüberzutreten.
    Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und ging die Royal Mile in Richtung Holyrood hinunter. Sie brauchte frische Luft und wollte zu Fuß gehen, die Enge einer Kutsche hätte sie jetzt nicht ertragen. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, und ihre Schritte auf dem Pflaster schienen von der wabernden grauen Masse geschluckt zu werden. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie hatte eine Tür geöffnet, die jahrelang verschlossen gewesen war, und hatte den Vorraum zur Hölle betreten. Trotzdem bedauerte sie es nicht, endlich die Wahrheit zu wissen. Nun wusste sie Bescheid, mochte es auch noch so schmerzhaft sein. Nun konnte sie mit ihrer Familie nach Cornwall zurückkehren – ihrer Mutter war sie nichts mehr schuldig.
    An einer Ecke der High Street tauchten plötzlich zwei Männer neben ihr auf. Einer umklammerte sie von hinten so fest, dass Maureen fast keine Luft mehr bekannt, während der andere mit einer Hand ihr Kinn hob und sie abschätzend betrachtete. Sein Atem stank nach Fäulnis und Bier.
    »Na, Süße, so allein unterwegs? Haste Lust auf uns zwei?«
    »Lassen Sie mich sofort los!«
    Mit aller Kraft trat Maureen um sich, und der Mann, der sie umklammert hielt, schrie auf. Offenbar war ihr Tritt erfolgreich gewesen.
    »Hey, das ist ja eine ganz Wilde! Ich mag temperamentvolle Frauen.«
    Durch den dünnen Stoff ihres Kleides, befingerte er ihre Brust, sie spürte die schwielige Hand und die Angst nahm ihr den Atem. Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, bei Dunkelheit allein durch die Altstadt zu gehen!
    »Olala, das ist aber ein feines Stöffchen, du machst wohl auf Dame, was?«, raunte einer der Kerle. »Bei dem Wetter musste froh sein, wenn du überhaupt Kundschaft bekommst.«
    Verzweifelt versuchte Maureen sich zu befreien, doch der Mann hatte dazugelernt. Sein Griff war wie aus Eisen, noch einmal würde er sich nicht treten lassen.
    »Ich bin eine ehrbare Frau.«
    Im selben Augenblick wusste Maureen, wie dumm dieser Satz klang. Keine ehrbare Frau war um diese Uhrzeit und bei dem Wetter allein in der Altstadt unterwegs. Trotzdem nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und rief: »Wenn mein Mann davon erfährt, wird er euch töten!«
    Tatsächlich wurde die Umklammerung nun ein wenig gelockert, und ein bärtiges, schmutziges Gesicht kam immer näher. Aufgesprungene Lippen versuchten sie zu küssen. Angewidert von dem üblen Geruch, den der Mann verströmte, drehte Maureen den Kopf zur

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