Im Schatten der Vergeltung
todkranke Mutter zurück, die sie nie mehr wiedersehen würde. Diese Gewissheit nagte während der letzten Tage an Maureen, und es gelang ihr nicht, das schlechte Gewissen zu verdrängen. Laura weigerte sich weiterhin, ihre ärmliche Behausung zu verlassen. Sie wollte auch auf keinen Fall die Hilfe einer Pflegerin annehmen, was Maureen zusätzlich Sorge bereitete, sie hatte aber aufgegeben, Laura zu überzeugen – es wäre zwecklos gewesen.
Da sie sich heute wohl fühlte, bat Laura Maureen, sie zum Friedhof zu begleiten. Stumm nahm Maureen am Grab ihres Vaters Abschied, und der Gedanke, das Grab ihrer Mutter niemals zu sehen, stimmte sie traurig. Es war aber unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder nach Schottland zurückkehren würde.
»Der Tod ist nur der Anfang von etwas Anderem, etwas viel Größerem. Wir Lebenden können das nur nicht begreifen.«
Erstaunt sah Maureen ihre Mutter an. Instinktiv hatte Laura im richtigen Moment die richtigen Worte gewählt. Maureen fühlte sich sofort etwas getröstet.
»Lass uns gehen«, bat Laura und hakte sich bei Maureen unter.
Der steile Anstieg zum West Bow ging doch über Lauras Kräfte. Sie hustete, erbleichte, und der Atem drang rasselnd aus ihrer Kehle.
»Schaffst du es, Mutter?«, fragte Maureen besorgt. »Vielleicht sollte ich Hilfe …«
»Nein, nein, es geht schon«, wehrte Laura ab. »Wenn ich mich nur auf dich stützen darf.«
Keuchend und hustend schleppte Laura sich immer nur wenige Schritte weiter, dann musste sie stehen bleiben und so hektisch nach Luft schnappen, dass Maureen Angst bekam. Sie stützte Laura und überlegte, wo sie wohl Hilfe holen konnte, denn sie würden es unmöglich allein schaffen bis zu der Schenke. Als sie sich umsah, bemerkte sie vier englische Offiziere, die sich ihnen näherten. Sie trugen die auffälligen, roten Uniformen und wurden von zwei Damen begleitet, die diese Bezeichnung nicht verdienten. Maureen erkannte sofort, welchem Gewerbe die Frauen nachgingen. Für ehrbare Frauen waren ihre Kleider zu tief dekolletiert und die Gesichter zu grell geschminkt. Offenbar hatte die Gruppe trotz der frühen Stunde dem Alkohol reichlich zugesprochen, denn die Männer grölten ein obszönes Lied. Einer der Offiziere wankte so dicht an Laura vorbei, dass er sie anrempelte und sie beinahe zu Boden gestoßen hätte. Maureen konnte sie gerade noch auffangen.
»He, du Schlampe, versperr gefälligst nicht die ganze Straße!«,
blaffte er, und Maureen roch seinen weingeschwängerten Atem.
»Was fällt Ihnen ein, zwei harmlose Damen zu belästigen?«
Zornig blitzte Maureen den Offizier an, der sich ebenso wenig wie seine Begleiter von ihrer Empörung beeindrucken ließ. Sie lachten hämisch, die Huren kicherten und hängten sich bei dem Wortführer ein. Sie maßen Maureen und Laura mit spöttischen Blicken und gingen weiter.
Der Vorfall war kaum der Rede wert. Maureen hätte die Männer nicht weiter beachtet und sie weiterziehen lassen. Bevor sie sich wieder Laura zuwenden konnte, hatte diese bereits ihre ganze verbleibende Kraft zusammengenommen, einen großen Stein von der Straße aufgehoben und diesen gezielt nach dem Offizier, der sie angepöbelt hatte, geworfen. Der Mann wurde von dem Stein an der rechten Schläfe getroffen. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen, und seine Begleiter starrten fassungslos auf das Blut, das aus einer kleinen Wunde auf den weißen Uniformkragen tropfte. Danach ging alles sehr schnell.
»O Gott!«
Maureen schrie laut auf, als sie von hinten gepackt und ihre Arme auf den Rücken gedreht wurde, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Ein zweiter Offizier tat das gleiche bei Laura, in deren Augen blanker Hass loderte. Sie versuchte sogar, dem Offizier ins Gesicht zu spucken. Der Zwischenfall hatte zahlreiche Passanten angelockt, die sich in einem Halbkreis um sie scharten. Niemand schritt ein, alle standen nur da und gafften. Die beiden Straßenmädchen nutzten die Gelegenheit und tauchten in der Menge unter, denn mit Ärger wollten sie nichts zu tun haben.
Der Offizier wischte sich das Blut aus dem Gesicht, trat vor Laura und schlug sie hart ins Gesicht.
»Wolltest mich wohl umbringen, du Miststück? Ein Angriff auf Armeeangehörige hat weitreichende Folgen für euch. Verlasst euch drauf!«
»Bitte entschuldigen Sie, Sir. Meine Mutter ist schwer krank, sie war sich nicht bewusst, was sie tat. Ich bin sicher, sie wollte Sie nicht verletzen.«
Verzweifelt versuchte Maureen ihn zu besänftigen. Er
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