Im Schatten der Vergeltung
»Ich kann mich nicht erinnern, dich gebeten zu haben, nach Schottland zu kommen und dich in mein Leben einzumischen! Ach, hätte ich diesen Brief doch niemals geschrieben! Hätte ich nie wieder Kontakt zu dir aufgenommen. Weißt du was, Tochter? Vergiss die ganze Sache! Man soll meine Überreste einfach auf irgendeinem Friedhof verscharren. Was kümmert es mich, wo mein Leib vermodert!«
»Mutter!« Maureen musste sich beherrschen, um Laura nicht anzuschreien, denn auch ihre Geduld hatte Grenzen. »Selbstverständlich werden Philipp und ich dafür sorgen, dass du in deiner Heimat begraben wirst.« Sie sah Laura eindringlich an, die mit verstockter Miene vor sich hin starrte. »Also gut, wenn du mir nichts über McCorkindale sagen willst – was ist mit deiner Mutter? Ist sie der Grund, warum du so hart geworden bist?«
»Du bist ungerecht!«, schleuderte ihr Laura entgegen. »Ich habe stets meine Pflichten als Mutter dir gegenüber erfüllt. Oder hast du jemals hungern müssen? John und ich haben hart gearbeitet, damit es dir gut geht.«
Mit einem Ruck schob Maureen ihren Stuhl nach hinten, dass die Beine über die Dielen kratzten, stand auf und ging zum Fenster. Sie war mit ihrem Latein am Ende und kurz davor zu resignieren. Ohne sich umzudrehen, sagte sie leise: »Es ging mir wohl besser als vielen anderen Kindern in dieser Zeit. Wir hatten immer genügend zu essen, und ich durfte an den Unterrichtsstunden im Herrenhaus teilnehmen, aber oft habe ich mir gewünscht, statt eines Tellers Haferbrei eine Umarmung von dir zu bekommen. Dafür wäre ich liebend gern hungrig zu Bett gegangen.«
»Das sagt du nur, weil du nie erfahren hast, was Hunger wirklich bedeutet.«
»Ich will nicht behaupten, dass du dich nicht bemüht hast«, fuhr Maureen fort und sah weiter in den dichten Nebel, der die Royal Mile in ein diffuses Licht tauchte. »Durch Frederica weiß ich aber, was es bedeutet, sein Kind über alles zu lieben und sich in jeder Sekunde um sein Wohlergehen zu sorgen. Es zerreißt mir beinahe das Herz, wenn Frederica krank ist oder Kummer hat. Mein ganzes Denken und Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, meine Tochter vor jeglichen Gefahren und Leid dieser Welt zu beschützen. Das sind Gefühle, die du mir gegenüber niemals gezeigt hast. Vergessen wir jedoch diese Zeit. Das Einzige, was ich heute von dir möchte, ist, zu erfahren, wo ich herkomme.« Sie drehte sich um und ließ Laura nicht aus den Augen. »Jeder Mensch ist ein Zweig eines großen Familienbaumes, und wenn man weiß, wo seine Wurzeln liegen, weiß man, wer man selbst ist. Kannst du das denn nicht verstehen?«
»Nein, und ich möchte es auch nicht verstehen. Manchmal ist es besser, seine Abstammung zu vergessen, sie vollständig aus dem Gedächtnis zu tilgen, wenn die Erinnerung daran von großem Leid geprägt ist.« Müde strich sich Laura eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erwiderte provozierend Maureens Blick. »Was willst du eigentlich hören? Dass McCorkindale ein reicher und mächtiger Clanchef war? Tja, vor der Schlacht von Culloden traf das zu. Wenn du jedoch hören willst, dass er ein zärtlicher Ehemann und liebevoller Vater, gerecht und großzügig gegenüber seinen Dienstboten, gewesen war, so muss ich dich enttäuschen. McCorkindale war ein Tyrann! Der einzige Mensch, auf den er sich jemals verließ, war er selbst. Für ihn zählte nur eine Meinung – seine eigene! Er war selbstherrlich und hochmütig. Und er war brutal. Besonders, wenn er dem Bier oder dem Whisky zugesprochen hatte. Da er täglich trank, waren seine Frau und ich vor seinen Wutausbrüchen und Schlägen niemals sicher. Wenn er betrunken war, konnte niemand ihm etwas recht machen. Wegen einer harmlosen Fliege an der Wand schlug er mit seinem Schwert die gesamte Einrichtung kurz und klein. Einmal hackte er einem Jungen, kaum älter als zehn Jahre, die Hand ab, als dieser in der Halle stolperte und ihm Rotwein über sein Wams schüttete.« Laura machte eine kurze Pause und trat zu Maureen. Leicht legte sie ihr die Hand auf die Schulter. »War es das, was du hören wolltest? Bestimmt nicht, es ist aber die Wahrheit. Nein, eigentlich ist es nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Glaub mir, es ist besser, wenn du den Rest nie erfährst.«
Maureen schluckte trocken, die Zunge klebte ihr am Gaumen.
»Du sprichst von ihm, als wäre er tot. Philipps Recherchen haben ergeben, dass Archibald McCorkindale noch lebt.«
»Für mich ist er tot, gestorben vor vielen,
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