Im Schatten des Drachen
ebenfalls auf.
„Es geht schon, Matty. Ich bin nur wahnsinnig müde. Ich glaube, ich schaffe es nicht mehr, zurückzufahren. Können wir hier bleiben? Oder im Auto schlafen?“
Die Nachtluft hatte sich empfindlich abgekühlt, und der salzige Atem des Meeres übersprühte uns bereits mit den ersten frühmorgendlichen Tautropfen. Das Auto wäre sicherlich die vernünftigere Lösung gewesen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich Paul und mich selbst noch dorthin würde schleppen können. Also entschied ich, dass es besser war, hier zu bleiben, zog seinen bebenden Körper ganz dicht an mich heran und wickelte dann die Decke wie einen festen Kokon um uns.
Mein Leib verschmolz mit seinem zu einem einzigen, weichen, pulsierenden Etwas, und sogar der in meinen Augen so nutzlose Stumpf schien ihm Wärme zu spenden, denn er zog ihn wie selbstverständlich zwischen seine klammen Waden, ohne Beklemmung vor dem Gefühl der Unvollständigkeit, einfach nur selig in der kuscheligen Geborgenheit unseres kleinen Nests am Ende der Welt.
„Ich liebe dich, Matty, egal wer du bist, ... egal, wie du bist ... Ich liebe dich einfach nur ...“
Mit jeder Silbe war sein Murmeln leiser geworden, das Zittern weniger, sein Atem ruhiger. Ich strich ihm sanft eine Locke aus der Stirn und flüsterte: „Ich heiße nicht Matty, mein edler Recke, ich heiße - Johannes. Und ich ... “
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Vielleicht hatte er mich gehört, im Halbschlaf noch verstanden. Vielleicht aber auch nicht. Ich ließ ihn schlafen, die entscheidenden Worte mit dem Morgenwind davongleiten in das verblassende Blau dieser Zaubernacht.
Frankfurt, im April 2007, auf einer Bank unter einem blühenden Kirschbaum
„Hannes, so geht es nicht weiter. Du musst etwas tun!“
Es war nicht das erste Mal, dass sie das sagte, mit diesen oder ähnlichen Worten. Aber es war das erste Mal, dass sie es in einem Ton sagte, der keinen Widerspruch mehr zuließ. Johannes lachte trotzdem zynisch auf - die Bitterkeit war erst in den letzten Monaten in seine Stimme gekrochen, als Dunkelheit und Kälte die wärmenden Erinnerungen restlos aufgefressen hatten. Die Wintermonate waren die schlimmsten. Es waren die, die er allein mit Marc verbrachte, seit nunmehr vier Jahren jeden Tag von November bis April seine tote Liebe immer wieder nachlebte, mit ihm lächelte, fieberte, diskutierte und Sex hatte. Zu keiner anderen Zeit im Jahr fühlte er die Leere deutlicher als in diesen dunklen Tagen, in denen die Menschen sich in sich selbst zurückzogen, rituelle Feiertage ohne Bedeutung für ihn begingen, die Sonne die Welt verließ. Wie Marc.
Aber im Gegensatz zu Marc kehrte die Kraft der Sonnenstrahlen nun zurück und begann, sein frierendes Herz langsam wieder aufzutauen wie die Knospen des Kirschbaumes, unter dem sie beide auf einer Bank saßen. Miri spielte vor ihnen im Sandkasten. Doch dieses Mal tröstete ihn der Anblick dieser ungetrübten Kinderfreude nicht.
„Was glaubst du, soll ich tun?“, entgegnete er herausfordernd, „mir einen Regenbogenschal kaufen und durch die Stadt ziehen? In Schwulenbars rumhängen und mich in diesen Saunen in dunkle Kabinen einsperren lassen? Ich weiß auch, wo hier im Park die perfekte Ecke für eine schnelle Nummer ist. Aber es ist doch klar, dass es darum überhaupt nicht geht, stimmt’s?!“
Johannes’ Stimme war mit jedem Wort leiser geworden, und am Ende in einem kraftlosen Flüstern untergegangen.
„Nein“, stimmte ihm Josefine zu und strich tröstend mit der Hand über die störrischen Wirbel auf seinem Kopf, in denen sich ein paar Blütenblätter verfangen hatten.
Für einen winzigen Moment schmiegte Johannes sich sehnsüchtig in diese liebevolle Geste, dann lehnte er sich auf der Parkbank zurück und schaute hinauf in den strahlend blauen Frühlingshimmel. Die Zweige des Kirschbaumes über ihm trugen ihr festlichstes Gewand, einen Traum aus schneeweißen Blüten, verwebt in hellgrünen Blättermaschen und verziert mit goldenen Pollentupfern, an denen hungrige Insekten wie betört saugten. Die Natur hielt Hochzeit, und er und Josefine saßen dabei wie zwei heimliche Trauzeugen.
„Nein“, sagte Josefine noch einmal, „darum geht es nicht. Aber du kannst nicht mehr so weitermachen. Du strafst dich selbst, Hannes, für etwas, für das du nicht die Verantwortung trägst. Niemand trägt sie. Es war Schicksal, eins, das wir vielleicht niemals begreifen werden. Aber vielleicht
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