Im Schatten des Drachen
ich nicht - nur, dass er nicht reagierte und ich ihn deshalb mit dem nächsten Atemzug auf Deutsch anschrie: „Pass auf, Paul!! Bremse!!“ Dann griff ich ins Lenkrad, zog es zu mir herüber, nur ein wenig, um den Wagen auf den Standstreifen zu bringen. Aber es war zuviel, ließ den Wagen heftig schlingern und fast über die Fahrbahn hinausschießen. Fast glaubte ich schon, Stoßstange auf Stoßstange knallen gehört zu haben. Doch der Ruck blieb aus. Im selben Moment kam Paul zu sich, erfasste die Situation und steuerte gegen, trat hart auf die Bremse und versuchte, das wild ausbrechende Fahrzeug unter Kontrolle zu bringen. Der langanhaltende Hupton des Wagens hinter uns ließ meinen Herzschlag einen Moment lang aussetzen. Meine Hände griffen haltsuchend ins Leere, und für einen aberwitzigen Moment dachte ich, es wäre besser gewesen, ich hätte statt des Dreipunktgurtes um den Bauch einen Helm auf dem Kopf, wie damals. Grotesk, dass es gerade jetzt, gerade hier noch einmal geschah, rasend schnell und doch in Zeitlupe.
Ich weiß nicht mehr, wie er es schaffte, aber endlich rollte der Wagen auf dem Standstreifen aus. Mit zähen Bewegungen schnallte Paul sich ab, schaltete die Warnblinkanlage ein und öffnete die Fahrertür. Erneutes Hupkonzert ertönte, und ein blauer Ford schleuderte an uns vorbei. Paul fiel kraftlos in seinen Sitz zurück; sein Gesicht war schweißüberströmt. Ich verstand kaum, was er flüsterte: „Help me, Matty, it’s going so quiet ...“
Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag ins Gesicht: er bekam einen Anfall. Hier, mitten auf der M 10, kurz vor Dublin und unendlich weit entfernt von jeder medizinischen Hilfe. Mein Verstand, der längst ausgesetzt hatte, wusste nicht, was zu tun war. Aber irgendein Instinkt, vielleicht der des Überlebens, diktierte mir die nächsten Handgriffe, als würde ich in einem Ratgeber für Erste Hilfe bei epileptischen Anfällen lesen. Mit einer für meine physische Verfassung erstaunlichen Kraftanstrengung schaffte ich es, Paul aus dem Auto zu ziehen, bevor er sich verkrampfte, und ihn über die Böschung auf die dahinterliegende Wiese zu tragen, wo ich ihn flach in das weiche Gras legte und seine Finger in meine eine Hand nahm, sie aber gleich wieder losließ, weil sie sich bereits wie Schraubzwingen zusammenzukrümmen begannen. Mit der anderen Hand hielt ich sanft seinen Kopf in meinem Schoß, seitlich und mit halb geöffnetem Mund, damit seine Zunge nicht nach hinten klappte und er sich an ihr verschluckte. Dann konnte ich nichts weiter tun, als bei ihm zu bleiben.
Im nächsten Moment setzte der Krampf ein, verschlang seinen schönen Körper wie ein zuckendes Monster, folterte und verstümmelte ihn auf grausamste Weise, und ich wusste, dass er in seiner stillen Einsamkeit einen verzweifelten Kampf kämpfte, während um uns herum die Vögel zwitscherten, Schafe blökten, der Verkehr lärmte.
Die Sekunden strichen qualvoll langsam dahin - oder waren es Stunden, die ich so dasaß und ihn hielt? Und woher kam dieses Murmeln, dieser fremde Klang einer vertrauten Stimme, der mich und ihn einspann wie das weiche, federnde Netz einer kleinen Spinne?
„A mhuirnín ó an dtiocfaidh tú na bhaile, A mhuirnín ó an dtiocfaidh tú liom, A mhuirnín ó an dtiocfaidh tú na bhaile, A mhuirnín ó ...“
Ganz leise murmelte ich die Worte, die er mir vor ein paar Stunden im Pub beigebracht hatte, imitierte ihren tiefen Klang, ihre eigenartige Melodie, ihren fremden Rhythmus. Ich zitierte das Mantra auf Gälisch und auf Englisch und irgendwie auch auf Deutsch, wieder und wieder, während Paul in meinen Armen wie wild zitterte und zuckte, seine blauen Augen verdreht und blicklos in den Himmel gerichtet, die Beine und Arme mit schier unbändiger Kraft verkrampft. Es war ein sehr schwerer Anfall, und erst jetzt wurde mir bewusst, dass er heute Morgen seine Tabletten nicht genommen hatte, vielleicht gestern schon nicht. Sie hätten das alles verhindern können, aber er war zu stark von meinen Sorgen abgelenkt, zu tief in meine Probleme verstrickt gewesen. Ich hatte das Chaos für ihn perfekt gemacht.
Mit einem Mal hörte ich eine Stimme hinter mir: „Hey, are you all right? Can I help ... - oh my Goodness!“
Ich wandte mich kurz um. Eine Frau stand hinter mir, in Kostüm und Bluse, dezent geschminkt, fertig für ihren Tag im Büro. Mein Erstaunen über ihre Erscheinung währte nur kurz; ich beschloss sie hinzunehmen als das, was sie war: eine Möglichkeit,
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