Im Schatten des Drachen
flüchtigen Blick in einen Spiegel vermieden.
Das einzig Gute an diesem sonst so beschissenen Tag war, dass trotz der Eskapaden von heute Nacht mein Bein mit keiner Faser schmerzte; als hätte ich eine doppelte Dosis Morphium eingeworfen. Dabei hatte ich noch nie Morphium genommen. In die furchtbare, nach Trauer und Einsamkeit klingende Stille zwischen uns, fragte ich zusammenhanglos: „Was bedeutet das eigentlich, was du mir immer auf gälisch zuflüsterst, wenn es mir schlecht geht? Es ist doch gälisch, oder? Eine keltische Beschwörungsformel? Oder das Kochrezept deiner Oma?“
Ein plumper Scherz, der die Spannungsglocke über unserem kleinen Plastiktisch in Humor auflösen sollte. Doch Pauls blasses Grinsen zeigte mir deutlich, dass mein kläglicher Versuch fehlgeschlagen war. Er legte das Brot beiseite und nahm einen Schluck von seinem Orangensaft, bevor er mir antwortete.
„Es ist eine Art Reim, Mantra, nenne es, wie du willst. Es tut mir leid, wenn ich dich damit genervt habe.“
Damit wollte seine Hand das ihm offensichtlich unangenehme Thema vom Tisch wischen, aber ich ergriff sie im Fluge und hielt sie fest.
„Nein, mir tut es leid, dass ich mich darüber lustig gemacht habe. Sag mir, was es bedeutet.“
Er sah mir in die Augen, während er die fremden Laute wiederholte:
„ ‚A mhuirnín ó an dtiocfaidh tú na bhaile
A mhuirnín ó an dtiocfaidh tú liom
A mhuirnín ó an dtiocfaidh tú na bhaile
A mhuirnín ó ...’ Es heißt soviel wie:
’My darling love, will you come back home?
My darling love, will you come with me? ’ “
Ich versuchte, die Gänsehaut abzuschütteln, die mir gerade über den Rücken gekrochen war, und lächelte scheu: „Diese Sprache klingt wie Wald in Herbstfarben, wie ein halb zugefrorener See. Es klingt wie ein Cello.“
Stumm entwand er seine Hand meinem Griff und löffelte weiter seine Suppe.
Es geschah etwa zehn Kilometer vor Dublin. Wir hatten wenig gesprochen während der Fahrt, und das eintönige Motorengebrumm schien unsere Sinne und unsere Ängste halb eingelullt, halb aufgerieben zu haben. Wir hatten uns an die Fersen eines Touristenbusses geheftet, der in gebührendem Abstand vor uns hertrottete. Auf meiner, der linken Seite dehnten sich in der leicht hügeligen Landschaft noch immer Schaf- und Kuhweiden aus, manche noch leuchtendgrün, manche bereits verlassen oder mit riesigen Heuballen bestückt. Haine und Buschstreifen unterteilten sie in kleine Parzellen, die aus der Vogelperspektive wie Handtücher aussahen. Handtücher mit Schafsköddelflecken. Rechts, für mich noch immer ungewohnt, zogen die Überholer vorbei. Die Einheimischen hupten vorher kurz, was mich immer aufs Neue erschreckte. Die Touristenwagen dagegen stahlen sich klammheimlich ohne jede Vorwarnung an uns vorbei, was wiederum Paul verunsicherte, wie er mir auf der Fahrt vor zwei Tagen erklärt hatte. Vor zwei Tagen.
Ich seufzte stumm und lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze. Zwei Tage, achtundvierzig Stunden, ... - das konnte soviel sein. Und doch so wenig. Keiner von uns beiden hatte einen Plan, wie es nach dieser kurzen Ewigkeit mit uns weitergehen sollte; ich wusste nicht einmal, ob Paul sofort zu sich nach Hause fahren würde, um sich auszuruhen, oder mich vorher noch zu einer Pension bringen würde. Am liebsten hätte ich mich von ihm in dem Park verabschiedet, in dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Aber so viele Kreise ließen sich auf dieser Reise wohl nicht schließen.
Irgendwann bemerkte ich die tödliche Ruhe, die von ihm ausging - gleichzeitig war es eine rasende Unruhe, die ihn befallen hatte. Sein Gesicht hatte die Farbe einer mit gelblichem Butterschimmel überzogenen Kalkwand angenommen, das Haar klebte verschwitzt auf der glänzenden Stirn. Am Halsausschnitt seines Hemdes erkannte ich rotleuchtende Nervositätsflecken, und seine Fingerknöchel stachen spitz und beinahe blau aus den um das Lenkrad geballten Fäusten. Ich kam nicht mehr dazu zu fragen, was denn los sei, er hätte es auch nicht mehr geschafft, mir zu antworten.
Plötzlich schrieen die Bremslichter des Busses vor uns auf, und dann kam die Reklameschrift auf seinem Heck rasend schnell auf mich zu. Ich stöhnte auf, hörte Kies knirschen, sah schwarze Reifen sich in der Luft im Leerlauf drehen und presste mich instinktiv in meinen Sitz zurück, während mein rechtes Bein reflexartig auf die Bremse trat, die da nicht existierte. Ob Paul die Gefahr überhaupt wahrnahm, wusste
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