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Im Schatten des Drachen

Im Schatten des Drachen

Titel: Im Schatten des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Leuning
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stützte mich, bis wir den Rand der Wiese erreichten. Vor uns war nun nichts mehr als der Ozean.
    Still und beinahe reglos lag er vor uns, ein geheimnisvoller Spiegel aus samtblauer Seide, der im Nachtwind sanft hin- und herschaukelte, als wiege er ein riesiges Baby in sich. Der Mond stand voll und hell am Firmament, und sein kaltes Licht brach sich in den Kräuselwellen, tauchte die schlafende Landschaft in einen silbernen Zauber, der die Gefahr der Klippen unter uns vergessen machte. Wenn ich jemals an Selbstmord gedacht hätte, dann in diesen Momenten, als ich mit Paul in der kaltblauen Ewigkeit stand, das verheißungsvolle Rauschen der Brandung zu meinen Füßen hörte, das tröstende Streicheln des Nachtwindes in meinen Haarwirbeln spürte. Nie zuvor und niemals wieder war ich so bereit gewesen für das, was mir seit fünf Jahren eine Höllenqual bereitet hatte. Und wenn Paul nicht gesprochen hätte, wer weiß - vielleicht hätte ich die letzten fünf Schritte bis zum Abgrund gemacht. Meine Seele jedenfalls befand sich bereits seit langem im freien Fall.
    Doch ich hörte Pauls Stimme, sein Flüstern drang an mein Ohr, gerade als die Leere mich zu verzehren drohte.
    „Es ist zum Sterben schön, nicht wahr?“
    Warum hatte er ausgerechnet das gesagt?
    Ich seufzte tief, spürte, wie die Kraft aus meinem Körper wich - die Kraft, die letzten verbleibenden Schritte weiterzugehen, trotzig stehen zu bleiben oder mutlos umzukehren. Ich konnte nichts mehr tun, als zu Boden zu sinken, setzte mich schließlich auf die Decke, die Paul mitgebracht und zu unseren Füßen ausgebreitet hatte. Er kniete sich hinter mich. Sanft drückten seine Hände meine Schultern zurück, lehnten meinen Oberkörper gegen seine Schenkel. Ich ließ es geschehen, den Blick nicht von der betörenden Szene vor mir lösend. Seine Hände massierten meine Schulter, strichen an meinem Hals entlang, über das Schlüsselbein und schließlich in den Hemdausschnitt. Sie berührten meine Brust, umkreisten die weichen Höfe und fanden schließlich die harten Kiesel in deren Mitte, spielten damit in kindlicher Verliebtheit. Mein Atem ging schneller, und schließlich beugte Paul sich über mich. Sein Oberkörper kam in mein Blickfeld, und erst jetzt nahm ich wahr, dass er nackt war. Ich hatte nicht bemerkt, dass er sich das Hemd abgestreift hatte. Silberblau hob sich seine Silhouette vor dem dunklen Himmel ab; dahinter gewahrte ich noch immer den blinkenden Leuchtturm.
    Seine Locken schimmerten schwarz. Sein Lächeln zog mich durch Raum und Zeit zurück zum Anfang vom Ende. Ich hob die Hand und streckte sie aus. Sanft berührte ich seinen linken Oberarm.
    „Es war hier, dass ich den Drachen zum ersten Mal gestreichelt habe. Ich vermisse ihn so sehr“, flüsterte ich.
    Es war das erste Mal, dass ich Paul etwas von Marc erzählte, und bis noch vor drei Minuten hätte ich nicht den Mut dazu gehabt. Aber die Endzeitstimmung, in der ich mich gerade befand, ließ plötzlich alle anderen Empfindungen wie Angst, Scham oder Reue nebensächlich erscheinen. Es zählte nur das Hier und Jetzt, und es schien mir richtig, dass sich an genau diesem Punkt Marc und Paul vereinten.
    Paul lächelte noch immer.
    „Habt Ihr Euch hier geliebt?“
    Intuitiv war er der Wahrheit nähergekommen, als er es hätte ahnen können. Sein Gesicht verschwamm vor meinen Augen - ich wusste, dass es meine Tränen waren. Tränen, die schon seit fünf Jahren in mir steckten. Ich nickte erst, dann schüttelte ich wieder den Kopf:
    „Ich habe Marc hier in Irland kennengelernt. Aber zur Liebe ist es nie gekommen. Nicht bei ihm. Er war ... er ist ... Der kleine Drache hatte mich verführt. Er hatte mich bezirzt und verzaubert, ich bin ihm gefolgt, so lange, so weit ...  Er hat mich auch gequält, mich getäuscht und dann gefoltert, auf eine süße Art, die erst wehtut, wenn die Lust vorbei ist ... Und schließlich hat er mich eingesperrt. Ich konnte mich nicht mehr befreien und hab ... ihm schließlich gesagt, dass ich - ich habe Marc meine Liebe gestanden, hier, an diesem Ort. Und deswegen ist er in den Tod gerast.“
       
     
    Es war alles wieder da. Der Staub. Das unheilvolle Knirschen der Kieselsteine, die die schweren, fast durchdrehenden Reifen in jeder Kurve in hohem Bogen durch die Luft schleuderten. Die Tachonadel bewegte sich auch für Johannes’ unkundigen Sinn in einem gefährlich hohen Bereich, doch der Pilot schien die Kontrolle über seine Maschine einem anderen als sich selbst

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