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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Autoren: Carla Federico
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er auf sie.
    »Aurelia«, sagte er.
    »Tiago«, sagte sie.

    Es war fremd, seine Hand zu ergreifen, und doch wieder nicht. Es war fremd, über sein Gesicht zu streicheln, vorsichtig tastend jedes Fleckchen seiner Haut zu erspüren, und doch wieder nicht. Es war fremd, weil er älter geworden war, ausgezehrter, weißer und faltiger, und weil sie Angst hatte, einer Täuschung zu erliegen. Was, wenn er nur ein Geist war, der sich verflüchtigte, sobald sie sich zu fordernd an ihn presste?
    Aber er verflüchtigte sich nicht, er blieb, und er war nicht nur fremd, sondern zugleich so vertraut – der Mann, den sie liebte, den sie auf immer verloren geglaubt hatte, der ihr wie aus dem Nichts neu geschenkt wurde.
    So wie sie ihn berührte, so vorsichtig, so ehrfürchtig streichelte er auch sie – voller ungläubiger Freude und zugleich voller Angst, das Wunder des unverhofften Wiedersehens durch eine zu abrupte Berührung zu zerstören. Erst später erfuhr sie, dass dies nicht nur der Moment war, da er sie endlich in die Arme schließen und endlich küssen konnte, sondern da alle Erinnerungen erwachten, er endlich wieder bis ins Letzte wusste, wer er war und woher er kam.
    In diesem Augenblick ahnte sie es nicht, wusste nur, dass er da war, dass er lebte, dass die Vorsehung, grausam und gnädig zugleich, vor allem aber rätselhaft, sie wieder zusammengeführt hatte.
    Als sie sich von ihm löste, war sie sich nicht sicher, wie lange sie sich umarmt hatten, ob Stunden oder Sekunden. In jedem Fall war es nach all den verlorenen Jahren zu kurz. Am liebsten hätte sie ihn sofort wieder umarmt und wieder geküsst, aber nun war sie nicht länger taub für die Stimmen, die wirr durcheinandergingen.
    Am lautesten redete Victoria – nämlich immer wieder von der Wüste, wo sie gelebt und an Salvador Cortes’ Seite gearbeitet hatte, und einem Jacob Foster, dem sie dort begegnet war, und während Aurelia zunächst verständnislos lauschte, begriff sie schließlich, dass Victoria einst ihren geliebten Mann schwer verletzt aufgefunden und gesund gepflegt hatte. Victoria war es auch gewesen, der Jacob oder vielmehr Tiago heute über den Weg gelaufen war. Noch besser verstand sie all das, als Clara, herbeigelockt von der Aufregung und nun voller Staunen, ein ums andere Mal rief: »Jacob ist Aurelias Mann?«
    Auch Kate meldete sich zu Wort und faselte begeistert irgendetwas von einem sensationellen Wiedersehen. Wenn dies bekannt würde, würde die Ausstellung in aller Munde sein. Christopher, der seinen Rausch zu überwunden haben schien, ging ungewohnt scharf dazwischen: »Das ist ihre Sache und ihre Geschichte. Du hast kein Recht, es in die Öffentlichkeit zu zerren, falls sie es nicht wollen.«
    Obwohl ansonsten die Dominante, verstummte Kate erstmals kleinlaut. Eine andere Stimme meldete sich zu Wort, die von Tino: »Mama, Mama, wer ist das?«, fragte er aufgeregt.
    Erst jetzt konnte sich Aurelia von Tiago lösen. Sie trat zu ihrem Sohn, ging vor ihm auf die Knie und zog ihn an sich. Vielleicht wäre es besser gewesen, es ihm schonend beizubringen, aber sie konnte die Worte nicht zurückhalten. »Das ist dein Vater, Tino – dein Vater, von dem wir alle dachten, er wäre tot …«
    Ganz langsam trat auch Tiago näher und wahrte noch Distanz, um Tino, der ein misstrauisches Gesicht zog, nicht zu überfordern. »Ich war auch auf eine gewisse Art und Weise tot«, erklärte er leise. »Ich habe einen Unfall gehabt – und danach habe ich vergessen, wer ich bin. Nur darum war ich so lange fort. Doch etwas hat mir den Weg zu dir und deiner Mutter gewiesen.«
    Mit zitternden Händen deutete er auf Aurelias Bild, das sie beide vereint in der Weite Patagoniens zeigte. Die Farben Chiles.
    »Wenn deine Mutter es nicht gemalt hätte, hätte ich euch vielleicht niemals wiedergefunden.«
    Vorsichtig machte er einen weiteren Schritt auf Tino zu. Der wich nicht zurück, sondern betrachtete seinen Vater halb ungläubig, halb neugierig. Tiago hob seine Hand, streichelte ihm übers Gesicht und kniete sich schließlich wie Aurelia auf den Boden, um seinen Sohn an sich zu ziehen. Tino wehrte sich nicht – doch zugleich ließ Aurelia ihn nicht los, und so fand sie sich alsbald in einer Umarmung wieder, diesmal zu dritt.

    Die erste Woche mit Tiago ging wie im Traum vorüber. Alles schien unwirklich, und manchmal packte Aurelia die Angst, sie würde jeden Augenblick erwachen und wieder Witwe sein. Zugleich hatte sie sich schon lange nicht mehr so
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