Im Schatten des Feuerbaums: Roman
den Jahren hatte er eine vage Erinnerung daran, was ich ihm über meine Heimat erzählt hatte. Es ist in seinem Kopf ein Sehnsuchtsland geworden, das er nun endlich selbst erforschen wird.« Sie machte eine kurze Pause, sah kurz das vor sich, was sie so oft gemalt hatte: Tiago und sie selbst, wie sie inmitten der patagonischen Steppe standen. »Und was dann wird, wird sich zeigen. Du und Clara – ihr begleitet uns doch?«
Zu ihrer großen Überraschung schüttelte Victoria den Kopf. In der letzten Woche war Aurelia von eigenen Gefühlen so ausgefüllt gewesen, dass ihr entgangen war, wie sich die Freundin Gedanken über die Zukunft gemacht hatte.
»Ich habe lange genug in der Wüste gelebt«, erklärte sie. »Ich muss jetzt nicht auch noch Jahre meines Lebens in der Pampa verbringen.«
»Aber was willst du stattdessen tun?«
»In der Atacamawüste habe ich mich zwar heimisch gefühlt«, erwiderte Victoria, »aber nur solange Salvador lebte. Es war gut für mich, nach seinem Tod nach Patagonien zu reisen, aber letztlich gibt es dort zu wenig für mich zu tun. Nach Santiago will ich auch nicht, dort würde mich doch nur alles an die Vergangenheit erinnern, und die spielt keine Rolle mehr für mich.« Sie machte eine kurze Pause. »Hier in New York hingegen habe ich keine Vergangenheit. Diese Stadt ist, genau betrachtet, wie geschaffen für mich – eine Stadt, wo moderne Frauen leben, wo die Kluft zwischen Arm und Reich schier unüberwindbar scheint und wo es genügend Krankenhäuser gibt, denen es an gutem Personal mangelt.«
»Du willst hierbleiben?«, rief Aurelia entsetzt. Ohne Zweifel – New York war auch in ihren Augen eine faszinierende Stadt, vorausgesetzt, man hielt sich nicht länger als für ein paar Wochen dort auf. Auch in der kurzen Zeit hatten Lärm und Enge und Geschäftigkeit bereits begonnen, ihr zu schaffen zu machen. Undenkbar, sich dem ein Leben lang auszusetzen!
Victoria aber sah das anders und lachte. »Ich weiß nicht, für wie lange, aber ja – ich bleibe, zumindest vorerst. Kate und Christopher haben mir angeboten, bis auf weiteres ihr Gast zu sein.«
Aurelia blickte sie skeptisch an. »Ihren protzigen Reichtum erträgst du doch nicht lange.«
»Wie es aussieht, begeben sie sich bald wieder auf Reisen, und dann habe ich das Haus für mich. Wer weiß«, sie zwinkerte spitzbübisch, »vielleicht mache ich bis zu ihrer Rückkehr ein Asyl für Obdachlose daraus?«
Aurelia grinste.
»Und die Zwillinge?«, fragte sie.
»Clara will auf jeden Fall hier bei mir bleiben – und was Dora anbelangt … Nun, ich weiß nicht, ob sie ihr Herz endgültig an Arturo verloren hat oder nicht. Ich will die Entscheidung ihr überlassen: Entweder, sie kann sich von ihm losreißen und kommt hierher – oder sie bildet sich ein, dass er der Mann fürs Leben ist. Dann ist sie bei Rita und Balthasar auf jeden Fall gut aufgehoben.«
Das Lächeln schwand von Aurelias Lippen, als sie die Folgen von Victorias Entschluss begriff. »Wie soll ich nur ohne dich nach Chile zurückkehren!«, sagte sie traurig.
Victoria verdrehte die Augen. »Du Dummkopf!«, schimpfte sie auf gewohnt schroffe Weise. »Wir haben so viele Jahre getrennt voneinander gelebt.«
»Was jammerschade war!«
»Was vor allem Schicksal war. Wenn ich es recht überlege, ist es falsch zu hadern, dass wir uns damals gestritten haben. Wenn ich Tiago tatsächlich kennengelernt hätte, hätte das wahrscheinlich auch bedeutet, dass ich ihn nicht hätte retten können. Denn wären wir eng befreundet geblieben, hätte es Espinoza nicht gewagt, mich aus dem Krankenhaus zu werfen. Oder zumindest hättest du dich in diesem Fall für mich eingesetzt. Ich wäre nie in die Atacamawüste gegangen. Tiago wäre in der Wüste gestorben. Und ich hätte Salvador nie kennen- und lieben gelernt.«
»Wer weiß«, wandte Aurelia ein, »das Leben nimmt oft verschlungene Wege.«
»Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Fest steht: Wir haben alle etwas verloren – und alle etwas wiedergefunden. Vor allem uns selbst.«
Eine Weile schwiegen sie und schwelgten in Erinnerungen. Dann erhob sich Victoria als Erste, um Aurelia zu umarmen.
Aurelia stiegen Tränen in die Augen, als sie den festen Griff der Freundin fühlte. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, mich bald endgültig von dir zu verabschieden.«
»Was heißt hier endgültig?«
»Nun, zumindest für lange Zeit.« Ein Schluchzen löste sich aus ihrer Kehle.
Wieder verdrehte Victoria die Augen.
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