Im Schatten des Feuerbaums: Roman
bei sich, so lebendig, so wahrhaftig gefühlt. Die letzten Jahre schienen nichtig zu werden, die Spanne, die den heutigen Tag von den Jahren ihrer Ehe trennte, nicht mehr als ein Augenblick – und dennoch war sie nicht mehr die Aurelia von damals und würde es niemals wieder sein, genauso, wie Tiago ein anderer geworden war.
Behutsam mussten sie sich neu kennenlernen. Manchmal überkam sie das Verlangen, ihn zu umarmen und nie wieder loszulassen, manchmal war da eine Scheu, ihn überhaupt anzufassen, als wäre er – wie in ihrem Traum vor der Abreise nach New York – ein Geist, der sich in nichts auflösen könnte. Wie eine Schlafwandlerin wähnte sie sich manche Stunden durch den Tag zu gehen, um im nächsten Augenblick doch Herrin ihrer Sinne zu sein, alles stärker zu hören, zu riechen, zu sehen, zu fühlen als sonst.
Später hatte sie kaum Erinnerungen an die Ausstellung am nächsten Abend. Sie wusste, dass viele Menschen gekommen waren, konnte sich aber kein einziges Gesicht vor Augen rufen, wusste unscharf, dass man ihr Fragen gestellt und sie Antworten gegeben hatte – doch welche das waren, das hatte sie alsbald wieder vergessen. Kate sprach am nächsten Tag von einem großen Erfolg, aber ihre tiefe Befriedigung darüber erreichte Aurelia nicht. Sie hatte Tiago wieder, nichts konnte dieses Glück noch vergrößern, nichts konnte ihm auch etwas anhaben, so auch nicht Kates und Christophers stetes Geplänkel, weil nach der Ausstellung heftige Diskussionen begannen, wann sie zur nächsten Reise aufbrechen würden.
Nach einer Woche erwachte Aurelia nicht länger mit dem Gefühl, all das Geschehene sei womöglich nur ein Trugbild gewesen. Es wurde selbstverständlich, mit Tiago einzuschlafen und mit ihm zu erwachen, und sie begann, von der Welt wieder mehr wahrzunehmen als nur ihre kleine Familie.
Mit schlechtem Gewissen stellte sie fest, dass sie all die Tage nie Zeit gefunden hatte, ausführlich mit Victoria zu sprechen, obwohl diese das Wiedersehen mit Tiago doch nicht minder aufzuwühlen schien. Sie hatte es Aurelia zwar gleich am ersten Abend erzählt – aber nun kam die Erkenntnis langsam auch bei ihr an: dass Victoria nicht nur diejenige gewesen war, die Tiago in der Wüste gefunden, gerettet und zurück ins Leben geführt hatte. Sondern, dass sie sich ihm sehr nahe gefühlt, dass sein Schicksal sie ungemein berührt hatte.
»Wenn ich ihn nur erkannt hätte …«, stieß sie jetzt ein ums andere Mal aus. »Wenn ich bloß auf die Idee gekommen wäre, dass er dein Mann sein könnte …«
»Du wusstest doch nicht, dass er sich in der Atacamawüste aufhielt. Wie hättest du den einen mit dem anderen in Verbindung bringen können?«
Kurz schwiegen die beiden Frauen und dachten dasselbe: dass es möglich gewesen wäre, wenn sie ihr einstiger Streit nicht entzweit hätte. Wenn Victoria nicht jeden Kontakt zu ihr abgebrochen, sondern Tiago kennengelernt hätte.
Keine von beiden sprach es aus, und insbesondere Aurelia wollte keine Zeit verschwenden, mit einstigen Versäumnissen zu hadern. »Nun, du hast nicht gewusst, wer Tiago oder dieser Jacob war. Jetzt lässt sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Jetzt müssen wir in die Zukunft schauen. Und das Beste daraus machen.«
»Ja«, murmelte Victoria nachdenklich und gab endlich ihr Grübeln auf. »Was werdet ihr nun tun?«, fragte sie nach einer Weile.
»Tiago will so bald wie möglich zurück nach Chile. Er muss seinen Eltern doch sagen, dass er noch lebt.«
»Aber er will doch nicht …«, begann Victoria entsetzt.
»Nein.« Aurelia schüttelte den Kopf. »Er will nicht mehr unter der Fuchtel seines Vaters stehen. Er war so entsetzt, als er gehört hat, was William mir angetan hat. Dass er mich auf die Hacienda abgeschoben und mir beinahe Tino weggenommen hat.«
Aurelia entging die leise Skepsis in Victorias Gesicht nicht, aber die Freundin brachte keinen Einwand hervor. Vielleicht, weil sie darauf vertraute, dass Tiago sich geändert hatte. Oder zumindest Aurelia.
»Und Andrés«, fuhr Aurelia erschauernd fort. »Niemand anderer als er war es, der ihn damals fast getötet hat! Tiago weiß noch nicht, ob er ihn anzeigen wird, aber auf jeden Fall muss er mit ihm sprechen. Und danach …« Der düstere Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht, und ein breites Lächeln erschien: »Und danach gehen wir nach Patagonien. Tiago und ich haben auf unserer Hochzeitsreise damals nur einen kurzen Zwischenstopp in Punta Arenas eingelegt. Doch in all
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