Im Schatten des Feuerbaums: Roman
deutscher Auswanderer, die häufig im Gesundheitswesen arbeiteten – aber Victoria ahnte, dass die gemeinsame Herkunft keine Nähe schaffen würde. Die Chileninnen wiederum stammten wohl allesamt aus der Mittelschicht, deren Berufe zwar anerkannter waren als die der Arbeiter, aber die zu wenig Geld einbrachten, um auf den Zuverdienst der Töchter – zumindest bis sie heirateten – zu verzichten. Wurden sie nicht Krankenschwestern, blieben wenige andere Betätigungsfelder: Sie konnten Sekretärin werden, Grundschullehrerin oder Telefonistin.
Plötzlich nahm Victoria aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Während fast alle Lernschwestern fromm wie Schafe glotzten, grinste eine, die sich an die Wand gleich neben der Tür gelehnt hatte, Victoria unverhohlen an. In ihren Augen lag ein Funkeln.
Victoria senkte den Blick, sah dann wieder zu jener Frau. Sie glaubte, den gleichen Überdruss, den sie selbst spürte, in ihrer Miene zu lesen – und außerdem kam ihr die Frau irgendwie bekannt vor. Sie musste sie schon einmal gesehen haben, wenn ihr auch nicht mehr einfiel, wann und wo.
Ehe sie auf die junge Frau zutreten und fragen konnte, wer sie war, hörte sie, wie ihr eigener Name gerufen wurde. Schwester Adelas Blick ruhte auf ihr, und nicht länger schien dieser gleichgültig, sondern irgendwie … triumphierend.
»Schwester Victoria, können Sie meine letzten Worte wiederholen?«
Victoria unterdrückte ein Seufzen. Obwohl sie ihr Urteil über Adela schnell gefällt hatte, wollte sie im Gegenzug nicht gleich am ersten Tag unangenehm auffallen.
»Es ging um die wichtigsten Aufgaben von uns Krankenschwestern«, setzte sie zögerlich an. Sie hatte zwar nicht gehört, was Adela sagte, vermutete jedoch, dass es um die Pflichten ging, die nach der Morgenwäsche folgten. »Die Kranken müssen massiert werden«, riet sie wahllos, »die Verbände ausgewechselt oder neue angelegt sowie Medizin dargereicht werden.«
Sie geriet ins Stammeln. Schwester Adela kniff ihre Augen zusammen. »Und was sind die wichtigsten Fähigkeiten einer Krankenschwester?«
Victoria zuckte die Schultern. Wach und wissbegierig zu sein, hätte sie am liebsten gesagt, aber sie vermutete, dass Schwester Adela andere Ansichten hatte. Sie brachte kein Wort heraus und fühlte mit einem Mal viele hämische Blicke auf sich gerichtet. In Victorias Augen blitzte es, als sie diese erwiderte. Woher nahmen sich diese dummen Hühner das Recht, sie so herablassend anzusehen, nur weil sie einen Augenblick lang nicht aufgepasst hatte! Sie wusste mehr als sie vom Leben und wahrscheinlich noch viel mehr von der Medizin!
Einzig die junge Frau, die sie vorhin angegrinst hatte, blickte nicht hämisch. Auf leisen Sohlen schlich sie zu ihr und raunte ihr etwas zu. Victoria verstand es nicht. »Beobachtungsgabe und gutes Gedächtnis«, wiederholte die andere etwas lauter.
»Das habe ich gesehen, Schwester Rebeca!«, schaltete sich Schwester Adele mit schriller Stimme ein. Ihr vorwurfsvoller Blick glitt von Victoria zu der anderen, doch die schien über die Maßregelung nicht sonderlich betroffen. Erst jetzt sah Victoria, dass ihre Augen grün schimmerten. Sie waren lang und schmal, fast ein wenig wie die einer Katze, und es funkelte erneut darin auf. Anstatt demütig den Blick zu senken, lächelte sie, als würde der Tadel sie amüsieren, und Victoria konnte nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern.
»Was gibt es da zu lachen, meine Damen! Wenn Sie Ihre Arbeit nicht ernst nehmen, dann …«
Ehe sie sich vollends in Rage redete, brach Schwester Adela unvermittelt ab, denn in diesem Moment betrat ein weiß gekleideter Mann den Raum, begleitet von vier weiteren, die wie Lakaien hinter ihm herschlichen. Adela trat hastig zurück, und die anderen Schwestern senkten prompt ehrfurchtsvoll den Blick.
Als ob sie gleich auf die Knie sinken wollen wie vor einem König!, schoss es Victoria durch den Kopf. In Wahrheit war der Weißgekleidete gewiss nur ein Arzt.
Dieser richtete weder an die neuen Schwestern noch an Adela einen Gruß, sondern wartete, dass Letztere sein Schweigen dienstbeflissen übersetzte.
»Morgendliche Visite!«, verkündete sie. »Wir folgen jetzt Doktor Ramiro Espinoza!«
Victoria musterte den Arzt. Ihr Vater hatte als Apotheker viel mit Medizinern zu tun gehabt, und einige waren bei ihnen zu Hause ein und aus gegangen. Victoria hatte gelernt, dass es ganz unterschiedliche Ärzte gab, Philanthropen, die sich für das Wohl ihrer Patienten
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