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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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er.
    Aurelia rieb ihre Lippen aufeinander.
    »Ich denke, ich kann etwas für die Niña tun«, ertönte plötzlich eine Stimme von der Tür her. »Denn ich für meinen Teil würde ihr nur allzu gerne Malunterricht geben.«

    Victoria trat von einem Bein auf das andere. Heute Morgen war sie noch voller Vorfreude auf ihren Dienst ins Krankenhaus aufgebrochen, aber nun war es noch nicht einmal Mittagszeit, und sie begann sich zu langweilen. Sie wollte die Krankensäle sehen, die Operationsräume, wollte sich um Patienten kümmern! Stattdessen hatte sich eine ältere Frau vor den neuen Lernschwestern aufgebaut und einen langen Vortrag begonnen, der kein Ende nahm. Schwester Adela, so ihr Name, hatte wie viele andere Krankenschwestern ihre Ausbildung in Deutschland erfahren. In Chile gebe es einen Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal – eine ihrer Aufgaben sei es, Abhilfe zu schaffen, indem sie das Niveau der hiesigen Ausbildung jener anpasste, die sie selbst genossen hatte. Ob sie Deutsche war oder nur einige Jahre dort gelebt hatte, wusste Victoria nicht. In jedem Fall sprach sie mit jenem leichten Akzent, den Victoria von ihrer Mutter kannte.
    Davon abgesehen hatte Schwester Adela leider nichts mit Emilia Hoffmann gemein. Letztere hatte in alles, was sie tat, viel Leidenschaft gelegt – ob es nun um die Apotheke ihres Mannes ging, die eigenen Geschäfte in Patagonien, ihre Wohltätigkeit oder ihren Kampf für die Rechte der Frauen.
    Schwester Adela jedoch vermittelte den Eindruck, als würde sie mitten in ihrer Rede einschlafen. Und das, was sie sagte, hatte mit Leidenschaft nichts zu tun. In ihren Augen hatte eine Krankenschwester eine solche nämlich nicht einzubringen, stattdessen die Bereitschaft für ein Leben voller Demut und Dulden.
    Sie zählte noch viele andere erforderliche Tugenden auf, und auch wenn Victoria nicht genau zuhörte, so ahnte sie doch, dass dies auf eines hinauslief: die künftigen Krankenschwestern darauf abzurichten, nie aufzumucken, keine eigenen Entscheidungen zu treffen und nie die Strukturen zu hinterfragen.
    Das fängt ja gut an!, ging es ihr durch den Kopf.
    »Eine Krankenschwester muss mit wenig Schlaf auskommen«, trug Schwester Adela eben vor, »sie muss früh aufstehen, und sie hat keine Zeit, auf sich selbst zu achten, will sagen: keine Zeit, der Eitelkeit zu frönen. Sorge zu tragen, dass sie stets sauber ist, hat sie natürlich schon.«
    Victoria unterdrückte ein Gähnen.
    »Dies sind nun die ersten Aufgaben des Tages: Jeder Kranke muss mit Wasser und Seife gereinigt werden. Dabei sind ein eigenes Handtuch zu verwenden und ein eigener Waschlappen. Anschließend werden die Haare gekämmt, wird der Mund ausgewaschen, werden die Zähne geputzt und hinterher mit Gurgelwasser gespült. Falls der Kranke unfähig ist, dabei mitzuwirken, muss die Pflegerin ein in das Mundwasser getauchtes Gazeläppchen um ihren Finger wickeln und den Mund reinigen. Nach einmaligem Gebrauch ist dieses Läppchen sofort zu verbrennen. Und wenn der Kranke nicht einmal seinen Mund öffnen kann, so muss man ein keilförmiges Holzstück zwischen seine Zähne schieben. Anschließend werden die Fingernägel gestutzt und bei den Männern die Bärte gebürstet.«
    Victoria unterdrückte erneut ein Gähnen. Um wie viel hilfreicher wäre es, Schwester Adela würde all dies an einem konkreten Patienten vorführen, anstatt nur darüber zu sprechen!
    »Nach der Morgenwäsche erfolgt die Visite des Arztes, dem über sämtliche Vorkommnisse berichtet werden muss. Selbstverständlich können Krankenschwestern keine eigene Diagnose stellen, durchaus aber Fieber messen und diverse andere Dinge kontrollieren: ob der Kranke Schmerzen hat, in welchem Zustand sich seine Verdauung befindet, wie lange er geschlafen hat, ob es vielleicht zu Nasenbluten gekommen ist. Alles Auffällige ist zu notieren und zu berichten – der Arzt wird dann entscheiden, ob es etwas mit dem jeweiligen Krankheitsbild zu tun hat oder nicht.«
    Lieber Himmel!, dachte Victoria. Sich eigene Gedanken zu machen scheint wohl verboten zu sein!
    Sie wandte sich von Schwester Adela ab und ließ ihren Blick über die anderen jungen Frauen schweifen, die mit ihr gemeinsam die Ausbildung zur Krankenschwester begannen. Sie alle standen so steif da, als hätten sie einen Stock verschluckt, und blickten Schwester Adela ehrfürchtig an. Keine von ihnen schien sich zu langweilen oder aufrührerische Gedanken zu hegen. Vielleicht war die eine oder andere Tochter

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