Im Schatten des Feuerbaums: Roman
aufopferten, rationale Praktiker, die zwar in ihrem Beruf gut waren, aber mit ähnlich viel Leidenschaft ans Werk gingen wie ein Metzger bei der Schlachtung, und schließlich jene eingebildeten und arroganten, die sich als Herren über Leben und Tod aufspielten.
Ein kurzer Blick auf Doktor Ramiro Espinoza genügte Victoria, um ihn der dritten Kategorie zuzuordnen.
Dennoch war sie froh, dass sein Erscheinen Adelas Vortrag beendet hatte und sie nun endlich einen der Krankensäle betreten würden.
»Tut, was Doktor Espinoza euch sagt, und fallt nicht unangenehm auf«, zischte Adela den jungen Frauen auf dem Weg dorthin zu. Den Namen des Arztes sprach sie aus wie den einer Gottheit.
Die ersten Krankensäle, an denen sie vorbeikamen, waren groß, erfreulich hell und schienen auch ziemlich sauber, dennoch erkannte Victoria, dass sie allesamt überbelegt waren, sich Pritsche an Pritsche reihte, so dass kaum ein Durchkommen war und hier gewiss nicht die Regel eingehalten wurde, wonach eine Schwester für maximal zehn Patienten zuständig war. Entsetzt war sie, als sie danach die Kinderstation passierten, einen viel kleineren Raum mit winzigen Fenstern, durch die kaum Licht oder gar ausreichend frische Luft hereinkam. Die Pritschen hier waren noch schmaler und die Kinder, die darauf lagen, in einem erbärmlichen Zustand.
Rachitis, stellte sie mit Blick auf eines der Kinder fest, gewiss leidet es an Rachitis. Die Beine des Einjährigen waren angeschwollen, das Gesicht verschwitzt, aus dem Mund troff Blut.
Wie gerne hätte sie sich um dieses Kind gekümmert, doch der Doktor ging achtlos weiter, und sie musste ihm folgen.
Auf die Kinderstation folgte die Säuglingsstation, die in fast noch katastrophalerem Zustand war. Es gab nur ein einziges Fenster, das zudem völlig verdreckt war, und lediglich eine einzige Schwester tat hier ihren Dienst, noch dazu eine uralte. Victoria konnte es kaum fassen, als sie sah, wie sie einem Säugling mit dessen beschmutzter Windel die Nase putzte.
Sie erwartete, dass Doktor Espinoza dies ebenfalls bemerken und eingreifen würde, doch er durchquerte zügig auch diesen Raum, und ihm folgten erst die anderen Ärzte und dann die Schwestern, allesamt mit geduckten Köpfen, als wären sie nicht in einem Krankenhaus, sondern beim Militär.
»Was für Zustände!«, stieß Victoria aus.
»Es sind eben nur die Kinder der Arbeiter«, ertönte eine Stimme neben ihr. Erst jetzt bemerkte sie, dass die junge Frau mit den grünen Augen und dem spöttischen Lächeln, die offenbar Rebeca hieß, unmittelbar neben ihr ging. »Und die sind keine Mitglieder bei einem der vielen Gesundheitsvereine.«
»Welchen Vereinen?«
»Privatleute schließen sich zusammen und zahlen regelmäßig Beiträge – und im Krankheitsfall kommt der Verein für die Kosten auf. Aber diese Beiträge können sich viele nicht leisten, und weil man weiß, dass sie am Ende nicht für ihr Bett und ihre Behandlung zahlen können, kümmert man sich kaum um diese Patienten.«
In den grünen Augen blitzte nicht länger nur Spott, sondern Hass auf. Als Victoria sie anstarrte, bemerkte sie noch etwas anderes, was sie verwirrte: Unter der weißen Schwesternhaube trug Rebeca die Haare kurz geschnitten – etwas, was Victoria noch nie gesehen hatte. Sie hatte zwar davon gehört, dass moderne Frauen in Europa die Haare ähnlich kurz wie Männer trugen, aber dass es auch Frauen in Chile gab, die das wagten, war ihr unbekannt.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da traf sie schon Schwester Adelas strenge Stimme: »Wollt ihr wohl endlich aufhören zu tuscheln?«
Rasch folgten sie Doktor Espinoza in den größten Krankensaal. Dieser war reinlich, die Betten waren frisch bezogen, und in der Luft lag der durchdringende Geruch nach Phenol, einem Desinfektionsmittel.
»Diese Patienten können es sich leisten, krank zu sein«, murmelte Rebeca, die Adelas Maßregelung überging. »Und deswegen werden sie auch bestens betreut.«
Doktor Espinoza war zum Bett einer Frau getreten, deren Beine hochgelegt waren. Er nickte einem der jungen Mediziner zu, der mit ernsthaftem Gesicht ihren Puls fühlte, während Schwester Adela die beiden ansah, als feierten sie Gottesdienst.
»Was für ein lächerliches Getue!«, sprach Rebeca aus, was Victoria insgeheim dachte. »Wenn man nur gleiche Sorge auf die Kinder verwenden würde, die an Rattenbissen sterben, weil ihre Eltern zu betrunken sind, um sie davor zu bewahren!«
»Kaum zu glauben«, zischte
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