Im Schatten des Feuerbaums: Roman
Victoria nicht minder erbost. Sie wollte etwas hinzufügen, als sie plötzlich spürte, wie abermals alle sie anstarrten. Zum zweiten Mal an diesem Morgen war sie unachtsam gewesen, und nachdem sie erst Schwester Adelas Missfallen geweckt hatte, waren nun Doktor Ramiro Espinozas Augen nicht weniger abfällig auf sie gerichtet. »Also können Sie meine Frage beantworten? Da Sie so eifrig tuscheln, scheint es Sie nicht weiter zu interessieren, was ich hier treibe.«
Victoria wusste nicht, ob sie zugeben sollte, dass sie seine Frage gar nicht erst gehört hatte, oder lieber bekennen, dass sie die Antwort nicht wusste.
Sie hielt schweigend seinem Blick stand, während eine andere Lernschwester nach vorne trat und eifrig erklärte: »Die Beine der Patientin sind hochgelagert, um die Gefahr einer Thrombose zu minimieren.«
Das also hatte er wissen wollen. Doktor Espinoza nickte zufrieden, während die andere Schwester Victoria ein schadenfrohes Lächeln zuwarf.
»Als wäre es eine Leistung, eine andere auszustechen«, murrte sie leise in Rebecas Richtung, »dabei sollten wir Schwestern zusammenhalten.«
»Haben Sie vielleicht noch etwas beizusteuern?«, fragte Ramiro Espinoza süffisant und ging auf das nächste Bett zu. »Oder vielleicht können Sie mir etwas zu unserer nächsten Patientin sagen. Bei dieser Frau wurde eine Exstirpation des Kropfes vorgenommen. Bis vor kurzem war es üblich, bei dieser Operation die gesamte Schilddrüse zu entfernen, um Rezidiven vorzubeugen. Allerdings haben die meisten der Patienten anschließend schwerwiegende Mangelerscheinungen entwickelt – was zum Schluss führt, dass die Schilddrüse doch nicht unverzichtbar ist. Wissen Sie, warum?«
Er sah sie triumphierend an und war überzeugt, sie erneut bloßstellen zu können. Doch Victoria straffte ihre Schultern, reckte stolz das Kinn und antwortete, ohne nachzudenken: »Die schädlichen Folgen einer Totalexstirpation der Schilddrüse haben bewiesen, dass diese offenbar die Funktion hat, eine bestimmte Substanz im Körper herzustellen, die wiederum für die Gesundheit des Patienten unerlässlich ist.«
Rebeca kicherte verstohlen, die Ärzte und die anderen Schwestern blickten sie nahezu verdattert an.
»Um welche Substanz es sich genau handelt, ist bis jetzt nicht erwiesen«, fuhr Victoria selbstbewusst fort. »In jedem Fall hat der Physiologe Moritz Schiff durch Übertragung von Schilddrüsengewebe erreicht, dass man bei den betroffenen Patienten die Mangelerscheinungen beheben konnte.« Sie machte eine kurze Pause. »Moritz Schiff gehört zu den sehr experimentierfreudigen Medizinern. Er hat Selbstversuche nie gescheut. So ist es bekannt, dass er sich den Extrakt von Hundehoden injiziert hatte und dadurch gesteigerte sexuelle Kräfte verspürt hat.«
Victoria hörte Rebeca wieder neben sich auflachen. Einige der Schwestern waren rot angelaufen, die Ärzte raunten empört.
Doktor Espinoza fasste sich als Erster wieder, trat auf sie zu und musterte sie von oben bis unten. »Ihr Name!«, befahl er kühl.
»Victoria … Victoria Hoffmann.«
»Etwa eine Deutschchilenin?«
»So ist es.«
Er grinste schmal. Victoria deutete es keinen Augenblick lang als Zeichen der Anerkennung. Sie ahnte, dass sie sich gerade einen Feind gemacht hatte – wegen ihrer Dreistigkeit … und wohl auch wegen ihrer Herkunft, wenngleich sie nicht wusste, was Doktor Espinoza daran störte. Nun, für ihre Herkunft konnte sie nichts, und ihr Selbstbewusstsein würde sie ganz sicher nicht ablegen. Sie starrte ihm offen ins Gesicht und erwiderte sein falsches Lächeln.
5. Kapitel
I n Aurelias Kopf ertönte ein Rauschen. Sie erkannte zwar, dass es nicht irgendein Fremder war, der da den Raum betreten hatte, sondern niemand anderer als Tiago – der junge Mann vom Hafen in Valparaíso, der sie aufgefordert hatte, an die Escuela zu kommen –, aber sie hörte nicht, was er sagte. Vielleicht wiederholte er den Vorschlag, ihr Unterricht zu geben.
Nicht minder überrascht als sie war Matías Ponce. Erst hatte er sich über die Störung empört und den Mund geöffnet, um den anderen zurechtzuweisen, doch als er ihn erkannt hatte, senkte er ehrfürchtig seinen Kopf.
Heißes Glücksgefühl durchdrang Aurelia. Zu viel an Gutem war es beinahe, was ihr da geschah. Nicht nur, dass sie den schönen Mann von Valparaíso wiedertraf – obendrein musste er hier an der Escuela einen bedeutenden Rang haben, um Señor Ponce so viel Respekt einzuflößen.
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