Im Schatten des Feuerbaums: Roman
aber: zutiefst einsam. Oft hatte sie gehört, dass Patagonien der einsamste Ort der Welt wäre – aber sie konnte sich nicht erinnern, sich dort jemals so verlassen gefühlt zu haben wie hier. Sie wusste nicht, was genau sie erwartet hatte – in jedem Fall mehr Menschen, junge Menschen, mit Farbresten an den Fingern und in leidenschaftliche Gespräche vertieft. Doch weit und breit war nichts von diesen zu sehen.
Sie blickte sich um, das Licht war trübe. Sie hatte keine Ahnung, wo die Lehrsäle waren, wo die Ausstellungsräume, wo ein Büro – so es denn ein solches überhaupt gab. Als eine Frau die Treppe herunterkam, war sie zwar erleichtert, aber zugleich von deren Erscheinungsbild eingeschüchtert: Sie trug die Haare so streng frisiert wie Victoria und ein ähnlich unförmiges Kleid. Aurelia schien sie gar nicht wahrzunehmen.
»Bitte«, stammelte diese, »Valentina Veliz schickt mich und …«
»Die kenne ich nicht«, unterbrach die andere sie prompt.
»Sie schickt mich, damit ich mit Señor Matías Ponce sprechen kann«, fügte Aurelia hastig hinzu.
Dieser Name war der Frau offenbar bekannt. Sie musterte Aurelia etwas länger und deutete ihr dann schweigend an, mitzukommen. Eine Weile ertönte wieder nichts anderes als das Klappern ihrer Schritte, dann erreichten sie eine Tür, und hinter dieser befand sich ein größerer Raum, der einem Klassenzimmer glich. Zumindest hatte sich Aurelia so immer eine Schule vorgestellt – selbst hatte sie ja nie eine besucht. Überdies roch es nach Farben, nach Harzen und chemischen Substanzen, und als Aurelia eintrat, sah sie manch Farbpalette, Skizzenblock und Staffelei. Ehe sie den Raum jedoch genauer mustern konnte, vernahm sie ein Räuspern. Fast alle Plätze waren verwaist – ausgenommen jener hinter einem großen Schreibtisch in der Nähe der Tür.
Ein Mann saß dort, mit mausgrauem Anzug, Nickelbrille und dickem Schal um den Hals, und eben notierte er etwas in ein Buch. Er glich mehr einem Beamten, der Steuern eintrieb, als einem Künstler, aber offenbar war das Señor Ponce.
Beherzt trat Aurelia auf ihn zu.
»Aurelia Hoffmann«, stellte sie sich vor.
Ihre Stimme klang erstaunlich fest. Das Gebäude schüchterte sie ein, jener wenig freundliche Mann auch – dennoch wuchs plötzlich die Gewissheit in ihr, dass sie zu Recht hier war, dass es keinen geeigneteren Ort für sie gab. Sie wollte wirklich Malerin werden!
»Wollen Sie mir Ihre Bilder zeigen oder nicht?«, gab Ponce grußlos zurück.
»Bitte?«, entfuhr es Aurelia.
»Darum sind Sie doch hier, oder nicht?«, meinte er und deutete auf ihre Mappe. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sie immer noch mit beiden Händen umklammerte. Matías Ponces mürrisches Gesicht war nicht sehr ermutigend, aber dennoch legte Aurelia die Mappe vor ihm auf den Tisch und sah schweigend zu, wie er sie öffnete, erst die Zeichnungen mit Kohlestift durchblätterte und sich schließlich den Bildern aus Erdfarbe widmete.
Sie hielt den Atem an, während sie auf sein Urteil wartete. Als er es endlich aussprach, öffnete er kaum die Lippen, so dass sie nur Wortfetzen verstand. »Zeichnungen mit Kohlestift … ganz akkurat … Talent zur Beobachtung … aber auf sehr schlechtem Papier … Bilder mit den Erdfarben … originell, aber auch einfach … fast immer das gleiche Motiv … eine einsame Frau inmitten Patagoniens.«
Er hob den Kopf und blickte sie erstmals richtig an. Als er nun den Mund öffnete, kam immerhin ein ganzer Satz heraus: »Es ist nicht schlecht, was Sie da gemalt haben, aber das Motiv ist ziemlich nichtssagend.«
Aurelia verkrampfte ihre Hände ineinander und dachte fiebrig, was ihr Victoria einmal in den letzten Wochen über den deutschen Maler Pablo Burchard, der in Valparaíso lebte, erzählt hatte.
»Pablo Burchard hält auch häufig vermeintlich belanglose Dinge fest«, begann sie schließlich zögernd, »zum Beispiel einsam in der Landschaft stehende Bäume.«
Señor Ponce sah sie nachdenklich an. »Pablo Burchard steht aber auch klar in der Tradition der französischen Impressionisten. Sein Spiel von Farbe, Luft und Licht erinnert an das von Pierre Bonnard.«
Diesen Namen kannte Aurelia nicht, erinnerte sich jedoch, dass auch Tiago von den Impressionisten geredet – und sie mit ihnen verglichen hatte.
»Was genau wollen Sie hier eigentlich?«, fragte Matías Ponce plötzlich.
»Ich würde gerne … besser werden. Mehr lernen … über Farben, über Kunstgeschichte … ich
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