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Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Im Schatten des Feuerbaums: Roman

Titel: Im Schatten des Feuerbaums: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Federico
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tun. Widerwärtige Menschen! Pah!« Ihr Körper schüttelte sich vor Verachtung. Abermals beugte sie sich weit aus dem Fenster. »Das Problem ist nur, dass sie mich im Moment suchen. Hörst du? Ludwig fragt gerade den Nachtwächter, der die öffentlichen Lichter anzündet, ob er mich gesehen hat.«
    Aurelia beugte sich ebenfalls aus dem Fenster. Sie sah in der Ferne schemenhafte Gestalten, konnte aber nichts von dem verstehen, was dort unten gesprochen wurde. Der Abend war schnell gekommen. Das Meer, das man vorhin noch in der Ferne hatte glitzern sehen, war nur mehr ein schwarzer Streifen, der sich kaum vom grauen Himmel abhob.
    »Verdammt!«, fluchte Victoria. »Ich kann heute nicht mehr raus!«
    Aurelia seufzte erleichtert. Sie hätte sich äußerst unwohl gefühlt, Victoria dabei zuzusehen, wie sie auf halsbrecherische Weise die Hausmauer hinunterkletterte.
    »In meinem Zimmer habe ich noch etwas Kuchen und Portwein«, sagte sie, »ich meine – falls du noch Hunger hast.«
    Einmal mehr ging Victoria gar nicht erst auf ihre Worte ein. »Kannst du es nicht für mich machen?«, fragte sie.
    »Was?«
    »Nun, was schon? Die Medikamente abholen und zum Treffpunkt bringen. Ich beschreibe dir auch ganz genau, wie du dorthin findest.«
    Aurelia riss die Augen auf. »Bist du verrückt?«, entfuhr es ihr heftig.
    Victoria musterte sie abfällig. »Du bist doch in Patagonien aufgewachsen, oder nicht? Meine Mutter sagte immer, dass nur starke Frauen den starken Wind dort überleben. Alle anderen würden umgeweht werden. Also wirst du wohl hier runterklettern und einen Botengang erledigen können. Oder bist du etwa feige?«
    Die spöttische Frage packte Aurelia an ihrem Ehrgeiz. Dass sie feige wäre, hatte ihr noch nie jemand vorgeworfen. Gewiss, seit dem schrecklichen Erlebnis als Kind, als ihr leiblicher Vater sie entführt und mehrere Wochen gefangen gehalten hatte, um ihre Mutter zu erpressen, hatte sie sich nicht mehr so stark und unbesiegbar wie einst gefühlt. Aber sie hatte doch immer mit den jüngeren Brüdern mithalten können, wenn es darum ging, widerborstige Schafe festzuhalten, um sie zu scheren, oder schnell wie der Wind durch die Steppe zu reiten. Arturo, Emilio und Cornelio würden ohne Zögern nach unten klettern – warum sollte sie es nicht können?
    »Ich mache es«, willigte sie ein, um streng hinzuzufügen: »Aber hinterher unterhalten wir uns darüber, wie es nun weitergeht und ob du mit mir nach Patagonien kommst.«
    Victoria sagte nichts dazu, sondern erklärte ihr nur, wie sie erst zum Krankenhaus und dann zum Denkmal des Arturo Prat kommen würde.
    Als Aurelia sich aufs Fensterbrett schwang, wurde sie blass. Eine falsche Bewegung – und sie würde sich den Hals brechen. Allerdings spürte sie, wie Victoria nur darauf wartete, dass sie zögerte – und auch wenn ihre Knie zitterten: Niemals würde sie sich vor der so viel Jüngeren die Blöße geben, zu kneifen.

    Victoria blickte Aurelia nach. Ihr erster Eindruck, den sie von ihr gehabt hatte – dass sie etwas zu ängstlich, vorsichtig, gehorsam war –, wich einer gewissen Anerkennung. Sie kletterte geschickter nach unten, als sich vermuten ließ, obwohl sie so klein und zart war. Damals, bei ihrem Besuch in Patagonien vor sechs Jahren, hatte Victoria noch zu ihr aufgesehen – nicht nur, weil Aurelia körperlich größer, sondern weil sie die Ältere war, die mehr vom Leben, insbesondere in dieser windigen Einöde, verstand –, aber das hatte sich inzwischen geändert.
    Victoria schüttelte den Kopf. Mit den Erinnerungen an die Aurelia von einst erwachte auch jene an ihre Eltern, die damals in Patagonien so glücklich gewesen waren, Rita und Balthasar wiederzusehen. Rasch vertrieb Victoria das aufsteigende Bild von den beiden, wie sie lachten und redeten, indem sie zu ihrem Schreibtisch trat und ihre Bücher und Briefe ordnete. Alsbald fand sie nichts mehr zu tun – und das war ein höchst ungewohnter Zustand für sie: Sie tat eigentlich immer irgendetwas. Nur zu warten lag ihr nicht. Sie blickte nach draußen auf den nachtschwarzen Himmel, hörte jedoch nichts – weder die Stimmen von Elvira oder Ludwig noch Schritte, die von Aurelias Wiederkehr kündeten.
    Hoffentlich ging alles gut.
    Sie zögerte kurz, schlich dann erst in den Gang und schließlich in Aurelias Zimmer. Wie es aussah, war sie mit einfachem Gepäck gereist: Auf einem Stuhl lag eine Tasche, auf dem kleinen Tischchen eine Mappe. Wieder zögerte sie – denn

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