Im Schatten des Fürsten
Zeit, um ihre Gedanken zu ordnen, während sie sich frischmachte. Ihr wurde flau im Magen, als sie die Blutflecke auf Rock und Tunika sah, sie zog ihre Kleidung so schnell wie möglich aus und warf sie ins Feuer. Das war zwar Verschwendung, aber diese Stücke hätte sie ja doch nie wieder getragen. Nicht nachdem sie gesehen hatte, wie die Dunkelheit in den Augen dieses jungen Mannes Einzug hielt.
Sie kämpfte die Erinnerung nieder, zog sich auch die Unterwäsche aus und anschließend saubere Kleidung an. Dann löste sie den Zopf und bemerkte neue graue Strähnen in ihrem langen, dunklen Haar. Auf der Kommode stand ein kleiner Spiegel, in dem sie sich nun nachdenklich betrachtete, während sie ihr Haar ausbürstete. Mehr Grau, und trotzdem würde man ihr das wirkliche Alter nicht anmerken. Sie war schlank (nach modischen Maßstäben zu dünn), und ihr Gesicht hätte zu einem Mädchen gehören mögen, das gerade erst zwanzig geworden war - dabei war sie bereits doppelt so alt. Wenn sie Biettes Alter erreichte, würde sie aussehen wie Mitte Dreißig, abgesehen vom grauen Haar natürlich, das sie allerdings auch nicht dunkel färbte. Schließlich war das Grau das einzige Merkmal, das sie als erwachsene Frau kennzeichnete. Ihr Körper war zierlich, und sie hatte diese scheinbare Jugendlichkeit, wie sie allen Wasserwirkerinnen anhaftete. Ihre grauen Haare waren zwar eine zwiespältige Ehrenauszeichnung für all das, was sie in ihrem Leben erlitten und verloren hatte, aber mehr hatte sie eben nicht vorzuweisen.
Sie flocht das Haar nicht neu, sondern ließ es offen und betrachtete sich stirnrunzelnd im Spiegel. Im Arbeitszimmer essen und nicht in der Halle? Demnach wollte Bernard - oder eher Amara - vermeiden, dass jemand ihr Gespräch mit anhörte. Also war die Kursorin mit einer Nachricht der Krone ins Tal gekommen.
Wieder breitete sich dieses flaue Gefühl in ihrem Magen aus, diesmal aus Sorge. Der Meuchelmörder in der Scheune hatte sie zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt angegriffen. Konnte es ein Zufall sein, dass nur wenige Stunden später ein Bote der Krone im Tal eintraf? Das hielt sie für unwahrscheinlich.
Was zu der Frage führte: Wer hatte den Mörder geschickt? Die Feinde der Krone?
Oder Gaius selbst?
Der Gedanke mochte im ersten Moment lächerlich klingen, doch Isana war da anderer Ansicht. Sie hatte Gaius kennen gelernt und seine Gegenwart gefühlt. Dieser Mann bestand aus Stahl und Stein und verfügte über den unbedingten Willen zu herrschen, zu betrügen und, wenn notwendig, zu töten, wenn es um seine Herrschaft oder um sein Volk ging. Er würde nicht zögern, ihren Tod zu befehlen, sobald sie zu einer Bedrohung für ihn wurde. Und das fiel durchaus in den Bereich des Möglichen.
Sie schauderte, verdrängte ihre Befürchtungen und bemühte sich, ein wenig Kraft und Zuversicht zu beschwören. Seit zwanzig Jahren bewahrte sie Geheimnisse, und sie beherrschte dieses Spiel genauso gut wie jeder andere im Reich. Sosehr sie Amara mochte und so gern sie gesehen hätte, dass sie ihren Bruder glücklich machte, die Frau war eine Kursorin und damit der Krone treu ergeben.
Ihr konnte sie nicht vertrauen.
Abends würde es kalt werden in der Steinhalle des Wehrhofes, also legte sie sich zusätzlich zu dem blauen Kleid ein dunkelrotes Tuch um die Schultern, zog Schuhe an und ging leise durch den Gang von Bernardhof - nein, Isanahof - zum Arbeitszimmer. Ihrem Arbeitszimmer.
Der Raum war nicht groß, und hier gab es keine Fenster in den Steinmauern des Wehrhofs. Zwei Tische nahmen den größten Teil des Platzes ein, an der Wand hing eine Schiefertafel neben Regalen. Im Winter, wenn sie mehr Zeit hatte, als mit Arbeit zu füllen war, brachte sie den Kindern hier Rechnen bei, half ihnen, besser mit ihren Elementaren umzugehen und lehrte sie zumindest ein wenig Lesen. Jetzt saßen Bernard, Amara und Aric, der jüngste Wehrhöfer des Tals, an einem Tisch, der für das Abendessen gedeckt war.
Isana schlüpfte ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Guten Abend, alle miteinander. Tut mir leid, dass ich euch nicht angemessen begrüßen konnte, Exzellenzen und Wehrhöfer.«
»Ach, Unfug«, erwiderte Aric, erhob sich und lächelte sie an. »Guten Abend, Isana.«
Bernard stand ebenfalls auf, und die beiden Männer warteten, bis Isana Platz genommen hatte, ehe sie sich wieder setzten.
Eine Weile unterhielten sie sich leise beim Essen über Alltägliches, bis das Mahl beendet war. »Du hast ja fast gar nichts
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