Im Schatten des Galgens Kommiss
Augen auf sich gerichtet. Wieder sah sie den harten Zug um den Mund des Mannes. War ihr dies schon unangenehm, so fühlte sie einen noch größeren Grimm gegen sich selbst, als sie bemerkte, daß bei dem Gedanken an diesen Mann mit der dunklen Hautfarbe ihr Blut rascher durch ihre Adern zu rauschen begann. ,By gosh, ich bin doch sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Was ist nur mit mir los?' schalt sie sich im stillen und rief sich gleichzeitig zur Ordnung.
Doch es wurde ihr in den Minuten, in denen Sam Truro und Töchterchen Elish sich in ihrem Ordinationszimmer aufhielten, nicht leicht gemacht, ihre Gedanken vollkommen von dieser Begegnung im Wartezimmer abzubringen. Mehr im Unterbewußtsein, als es bei ihr sonst der Fall war, behandelte sie die kleine Elish. Diese zuckte auch einige Male leicht zusammen, als ihr der klebrige Verband von einem bösen Geschwulst abgenommen wurde. Die kurzen Wehlaute der kleinen brachten Sheila Longden wieder zur Besinnung. So behutsam sie nur konnte, brachte sie von nun an die Behandlung zu Ende.
Dabei ärgerte sie sich auch noch ob des schweigsamen Benehmens Sam Truros. Er, der sonst immer einige Worte aus jener Zeit mit ihr wechselte, in der er noch als Gärtner auf ,Whitmen-Castle' beschäftigt war, brachte heute kaum die Lippen auseinander. Und wenn er es tat, dann nur, um einige brummige Laute von sich zu geben, die dann die Antwort auf ihre Fragen sein sollten.
Natürlich bezogen sich diese Fragen nur ausschließlich auf die Behandlung Elish Truros.
„So, für heute haben wir es wieder geschafft, Elish", atmete Sheila Longden sichtlich erleichtert auf, als sie der Kleinen in den Mantel helfen und Vater und Tochter anschließend zur Tür geleiten wollte.
Sam Truro aber hielt sie nicht ohne ihr Erstaunen mit den Worten zurück: „Diesmal möchte ich Ihre Bemühungen nicht umsonst haben, Miß Longden. Bitte, was bekommen Sie für Ihre Arbeit?"
Während Sam Truro dieses sprach, hatte er auch schon in die Außentasche seines abgegriffenen Rockes gefaßt. Und eine Zehn-Pfund-Note kam zum Vorschein. Fast ungläubig blickte Sheila Longden auf den knisternden Schein. Während sie die Worte hervorbrachte: „Aber das ist doch im Augenblick nicht erforderlich. Elishs Behandlung ist ja noch gar nicht abgeschlossen", konnte sie den Gedanken nicht unterdrücken, sich insgeheim zu fragen, wie es kam, daß Sam Truro plötzlich über Geld zu verfügen schien. Obwohl sie sich dagegen wehrte, kamen ihr plötzlich die Worte jener bösen Zungen in den Sinn, die da offen und ohne Zögern behaupteten, Sam Truro wäre ein Gauner geworden.
Aber Sheila Longden wollte es nicht wahr haben. Genauso, wie sie sich gegen die Annahme des Geldes sperrte, ließ sie den Verdacht, den sie ob des Geldes in Sam Truros Hand gegen diesen hegte, nicht tiefer in sich eindringen. Dennoch bedurfte es ihrer ganzen Überredungskunst, um das angebotene Geld nicht annehmen zu müssen.
„Nun, dann aber beim nächsten Mal, Miß Longden." Damit verabschiedete sich Sam Truro — und trat in das Wartezimmer zurück.
Durch die geöffnete Tür fiel Sheila Longdens Blick zu der Stelle hin, an der sie vor knapp zehn Minuten noch die Gestalt des Fremden erblickt hatte. Zu ihrem Erstaunen befand sich der Mann nicht mehr in dem Wartezimmer. Sein Platz war leer.
Sheila Longden hatte sich an diesem Vormittag allen Ernstes vorgenommen, sich über nichts mehr zu wundern. Ihr genügte es vollauf, was sie inzwischen erlebt hatte. Noch weitere Aufregungen wollte sie von vornherein mit Skepsis — und wenn es nicht anders ging, mit der sprichwörtlichen Elefantenhaut, begegnen. Daß die Vorsehung aber anders entschieden hatte, erfuhr sie schon bald. Noch zwei Patienten waren im Wartezimmer und warteten auf ihren Aufruf. Doch sie sollten an diesem Vormittag nicht mehr in das Ordinationszimmer der allseits beliebten Ärztin gelassen werden.
Ein anhaltendes Rasseln des auf Sheila Longdens Schreibtisch stehenden Telefons unterbrach die Tätigkeit der Ärztin. Vollkommen ahnungslos hob Sheila Longden den Hörer von der Gabel und meldete sich. Zunächst vernahm sie nur die aufgeregte Stimme Dr. Bringhmoors, des Hausarztes F. Howard Whitmens.
Dann dröhnten die Worte Dr. Bringhmoors wie Kanonenschläge durch den Draht „Miß Longden — bitte kommen Sie sofort nach Whitmen-Castle. Es handelt sich um Mister Howard Whitmen. Ich bin fassungslos — und weiß nicht, wie ich es Ihnen und Mister Bud beibringen soll. — Es ist . . .
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