Im Schatten des Galgens Kommiss
hier in Stepney weilte, überall herumgesprochen. Bis weit über die Grenzen dieses Stadtteiles war ihr Name bekannt — und so war es nicht verwunderlich, daß Morgen für Morgen, wenn sie ihre Praxis in der Ratcliffe-Street betrat, ihr Wartezimmer voller Patienten war. So auch wieder an jenem Morgen, an dem sie plötzlich wie aus heiterem Himmel heraus, einen harten Schock erhalten sollte. Gegen Ende ihrer Sprechstunden sollte es geschehen.
Doch zuvor trat noch ein weiteres Ereignis ein. Ein Ereignis, das sie in einer plötzlichen inneren Erregung nicht sogleich zu deuten wußte. Als sie später die Sache noch einmal mit klarer Überlegung überdachte, glaubte sie doch, einem Trugbild zum Opfer gefallen zu sein.
Sie schenkte danach diesem Ereignis, das sich in ihrem Wartezimmer abgespielt hatte, weniger Aufmerksamkeit, als sie es hätte tun sollen. Nun, die Sache ging so vonstatten: An diesem Morgen fertigte sie in ihrer gewohnten liebenswürdigen Art einen Patienten nach dem anderen ab. Während dann ihre Sprechstundenhilfe, ein gewandtes Girl aus dieser Gegend, mit der Anlegung eines neuen Verbandes an einem kleinen Jungen beschäftigt war und sie somit das Girl nicht von ihrer Tätigkeit abhalten wollte, um den nächsten Patienten zu sich in ihr Ordinationszimmer zu bitten, tat sie es diesmal persönlich.
Aber kaum hatte sie die Tür zum Wartezimmer geöffnet, als ihr Blick rein zufällig auf die Gestalt eines Mannes fiel. Sie glaubte, ihr eigenes Herz bis zum Halse hinauf schlagen zu hören, als sie das Profil des Mannes wenige Augenblicke später näher betrachtete.
,Das kann doch nicht möglich sein?' ging es ihr heiß durch den Sinn.
Schon in der nächsten Sekunde glitt ihr Blick von dem tiefbraun getönten Gesicht des Fremden in ihrem Wartezimmer ab und streifte dessen Kleidung. Der dunkelgraue Anzug war ebenso nichtssagend wie der Blick des Mannes, der sie nun ohne Scheu musterte. Außer der Härte in seinen grauen Augen und einem verkniffenen Zug um seinen Mund war es in diesem Augenblick des gegenseitigen Ansehens alles, was sich in ihrer Erinnerung festsetzte.
,Nur eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Menschen, dem ich irgendwo schon einmal begegnet bin', dachte sie erleichtert und glaubte, ihre so plötzliche Erregung würde sich nun legen. Dennoch klang ihre Stimme heiser, beinahe brüchig, als sie den nächsten Patienten zum Eintreten in ihr Ordinationszimmer aufforderte.
Noch einmal streifte ihr Blick den Fremden — und als sich an dessen Seite ein knapp neun Jahre altes Mädchen erhob und auch der Vater des Kindes nach kurzem Zunicken des Fremden auf sie zukam, war ihre innere Unruhe noch größer als zuvor. Gewaltsam zwang sich Sheila Longden zur Ruhe. Wieder überschlugen sich hinter ihrer hohen Stirn die Gedanken.
,Was hatte das zu bedeuten? Woher kannte der Fremde im Wartezimmer ihren früheren Gärtner, der sie durch eine dumme Geschichte vor über sechs Jahren hatte verlassen müssen — und der sich seitdem hier im Hafengebiet niedergelassen hatte?
Was — wieso — warum?'
Fragen über Fragen stürzten auf Sheila Longden ein, während sie Sam Truro, ihren vor Jahren entlassenen Gärtner, und dessen Töchterchen Elish an sich vorbei in ihr Behandlungszimmer treten ließ und hinter sich die Tür schloß. Zunächst fühlte Sheila Longden ein unbändiges Verlangen, Sam Truro zu fragen, wer dieser braungebrannte Mister in ihrem Wartezimmer, der ihr irgendwie bekannt vorkam, sei. Doch dann siegte die Vernunft über ihre weibliche Neugier.
Nicht zuletzt hielt sie eine gewisse Scheu vor dem Vater der kleinen Elish von dieser Frage zurück. Denn ihr war es nicht entgangen, daß böse Zungen behaupteten, Sam Truro wäre seit seiner Entlassung aus den Diensten der Whitmens tiefer und tiefer abgerutscht. War seine damalige Verfehlung schon dazu angetan, in ihm einen schlechten Kern zu erblicken, so behauptete man heute, er bestreite seinen und den Lebensunterhalt seiner Familie durch ungesetzliche Machenschaften. Wie weit diese Vermutungen zutrafen, hatte Sheila Longden bis jetzt noch nicht ergründen können. — Sie war ja auch keine Kriminalistin — sondern Ärztin. Ihr war es gleich, was ihre Patienten außerhalb ihrer Praxis trieben. Sie war dazu da, um kranke Menschen zu heilen und nicht, um nach deren Untaten zu fragen.
Als Sheila Longden an diesem Punkt angelangt war, tauchte wieder das Bild des Fremden im Wartezimmer vor ihr auf. Wieder fühlte sie den harten Blick aus den grauen
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