Im Schatten des Galgens Kommiss
seines Konstablers das Headquarter von Scotland Yard. Ihr Ziel war ,Whitmen-Castle‘. Hier, wo die Tat zur Ausführung gelangt sein mußte — ein anderer Ort kam nach Kommissar Morrys Ansicht nicht in Betracht — gedachte er jenen Faden aufzunehmen, der ihn zur Klärung des Falles führen würde. Erst nachdem er den mutmaßlichen Tatort des Verbrechens in Augenschein genommen hatte, wollte er seine Recherchen anstellen; wollte erwägen und sondieren, solange, bis sich ein Kreis von Personen herausgeschält hatte, der für eine eventuelle Täterschaft in Frage kam.
Stand dieser Kreis erst einmal fest, war es bis zur Überführung des eigentlichen Täters kein allzu weiter Weg mehr. Aber wie in einer Neunmillionenstadt wie London diesen Personenkreis herausfinden? Noch konnte jeder einzelne Bürger der Täter sein. Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten Kommissar Morry, als er sich von Konstabler William Tabler mit seinem Dienstwagen nach Kensington fahren ließ.
Es war eine Eigenart von ihm, daß er, der selbst ein eingefleischter Autofahrer war, auf derlei Fahrten nicht selbst das Steuer übernahm, sondern dieses einem seiner Boys überließ.
Das hatte den Vorteil, daß er sich voll und ganz auf das konzentrieren konnte, was ihn in den betreffenden Augenblicken jeweils am meisten beschäftigte. An diesem Tage war es aber nicht nur die Frage nach dem Tatmotiv und dem Täter allein, was ihn wortlos grübelnd auf seinem Sitz neben dem Konstabler hocken ließ.
Etwas anderes war noch hinzugekommen. Etwas, wofür er, wie auch der Doc, bisher noch keine Erklärung gefunden hatten. Immer und immer wieder tanzten vor seinen Augen die Worte, die er in Doc Donalds Gutachten gelesen hatte.
Zwei Sätze waren es nur, die ein bisher ungelöstes Geheimnis bargen: „Um welche Art Gift es sich handelt, kann zur Stunde noch nicht bestimmt werden, vermutlich handelt es sich um ein der Medizin gänzlich unbekanntes pflanzliches Produkt, das vielleicht in Indien, vielleicht auch im unerforschten afrikanischen Busch gewonnen wird." So lauteten Doc Donalds Worte. Was war nun daraus zu entnehmen?
Kommissar Morry begann seine Schlüsse zu ziehen:
.Erstens', so sagte er sich, ,kann sich dieses Gift schon seit langem, vielleicht gar seit einem ganzen Menschenalter, hier in der Stadt befunden haben. In diesem Falle besteht in Anbetracht der zwischenzeitlich verflossenen Zeit kaum Hoffnung, den Mann, beziehungsweise die Person zu ermitteln, die dieses Gift hierher nach London gebracht hat. Und zum anderen: dieses todbringende Produkt hatte sich erst seit kurzem in der Stadt befunden. Hier wäre zunächst herauszufinden, wer sich in jüngst vergangener Zeit in Indien oder Zentralafrika herumgetrieben hatte. Es mußte dann eine Person sein, die sich über Jahre hinaus dort aufgehalten hatte. Denn nur ein Mensch, der genügend Zeit hatte, um die Urbewohner dieser Breiten zu studieren, konnte in den Besitz dieses Giftes gelangen.'
Wie nahe Kommissar Morry mit seinen Mutmaßungen der Wirklichkeit schon in dieser Stunde war, ahnte er selbst nicht. Was in ihm vorging, war lediglich eine logische Denkfolgerung. Ein Konzentrieren auf Punkte, die ihn zu seinem Ziele — und zur Unschädlichmachung des heimtückischen Giftmörders führen sollten. . .
So begann Kommissar Morry sich schon auf der Fahrt nach Kensington ein etwaiges Bild von dem zu machen, was ihn in der Bearbeitung dieses Mordfalles erwartete.
Eines wußte er; es würde ein verdammt hartes Stück Arbeit für sein Dezernat werden, bis es soweit war, daß sich der Mörder F. Howard Whitmens aus dem Dunkel dieser geheimnisvollen Affäre herausschälte . . .
Als der wie ein normaler Kraftwagen aussehende Yardflitzer von der Kensington-Road abbog und sich „ Whitmen-Castle" näherte, lag das vornehme Viertel ohne sichtbare Veränderung ruhig und still im leichten Dunst des Herbsttages.
Das Bild stiller, behaglicher Zufriedenheit änderte sich aber schon mit Erreichen des schloßartigen Gebäudes von „Whitmen-Castle".
Der ältliche Butler, der den beiden Yardmen die Tür öffnete, war offensichtlich von den Ereignissen der vergangenen Stunden, nachdem der Tod des Hausherrn bekannt geworden und der Leichnam von der Polizei beschlagnahmt worden war, dermaßen erschüttert, daß er kaum noch in der Lage war, seinen Pflichten als dienstbarer Geist dieses Hauses nachzukommen. Die so stoische Gelassenheit, die diesen Menschen in der Ausübung ihres Berufes sonst so eigen ist,
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