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Im Schatten des Galgens Kommiss

Im Schatten des Galgens Kommiss

Titel: Im Schatten des Galgens Kommiss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans E. Koedelpeter
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Erkennen zu schützen. Wer Jean Embroke an diesem Morgen begegnete, hätte in ihm niemals einen abgeheuerten Seemann erkannt. Sein Äußeres war so verändert worden, daß selbst sein früherer Kapitän, der fast fünf Jahre tagtäglich mit ihm im Steuerhaus der ,Susanne' zusammengestanden hatte, ihn nicht auf den ersten Blick wiedererkannt hätte.
    Angefangen von seinem mächtigen schwarzen Bart, den er bis zu diesem Tage getragen hatte — und der nun nicht mehr vorhanden war, hatte auch seine Bekleidung eine starke Veränderung gefunden. In seinem dunkelgrauen, wenn auch einfachen Zweireiher, wirkte er wie einer jener Männer, die man in der Stadt wohl zu tausenden antreffen konnte. Ein genauso unauffälliger Mantel schloß die Umwandlung vom Seemann zum Bürger des Landes so ab, daß seine Schablone in allen Straßen und Kneipen zu finden war.
    So alle Brücken seines Zwischenspiels als Seemann abgerissen, fühlte sich Jean Embroke schon etwas wohler in seiner Haut.
    Jetzt galt es, die Schritte zu unternehmen, die er sich in den letzten Jahren schon . . . zigmal haargenau überlegt hatte.
    Der Anfang war bereits am Vorabend gemacht worden. Kein anderer als Jean Embroke war es gewesen, der sich in dem dunklen Park von „Whitmen-Castle" umhergetrieben hatte. Auch an diesem Tage zog es ihn wieder nach Kensington, nach „Whitmen-Castle".
    Hier hoffte er jene Anhaltspunkte zu finden, die er brauchte, um sein Ziel verwirklichen zu können. Ein Ziel, das darauf hinauslief, mit eisernem Besen einen Menschen hinwegzufegen, dem er unter anderem fünf lange Jahre harte Seemannsarbeit auf der Susanne verdankte. Sein Geheimnis sollte es vorerst bleiben, warum er ausgerechnet „Whitmen-Castle" dazu ausersehen hatte, um den Faden seines Unternehmens hier aufzunehmen.
    Was mochte wohl in seiner Brust vorgehen, als er an diesem neblig feuchten Vormittag die Underground-Railways auf der Duncester-Road Station verließ und mit wachen Augen durch die Straßen Kensingtons schritt?
    Wenn sich auch in seinem harten Gesicht kein Muskel rührte, so begann doch, je mehr er sich ,Whitmen-Castle‘ näherte, ein wahrer Vulkan in ihm zu brodeln. Mit aller Macht mußte er sich zur Ruhe zwingen, um nicht alles das über den Haufen zu werfen, was er sich in den vielen Stunden der Einsamkeit auf der Susanne zurechtgelegt hatte.
    Jetzt mußte er die Nerven behalten, wollte er sein so nahes Ziel nicht verfehlen — und damit sein ganzes Unternehmen in Frage stellen. Während so der Mann, nach dem ein großes Aufgebot von Polizeileuten fieberhaft suchte, langsam das Anwesen von Whitmen-Castle umkreiste, ahnte keiner die drohende Gefahr, die sich mehr und mehr um einen ganz bestimmten Personenkreis verdichtete.
    Dunkle Wolken hingen über Whitmen- Castle. Sie kündeten einen Orkan an, der sich schon bald über den Häuptern der Bewohner des in dem großen Park liegenden Hauses entladen sollte...
     
    *
     
    Sheila Longdens Betätigungsfeld als praktizierende Ärztin war das Arbeiterviertel von Stepney. Ihr eigener Wunsch war es gewesen, sich hier unter den zum größten Teil minderbemittelten Menschen eine Praxis aufzubauen. Sie hatte das Bedürfnis zu helfen — und wo anders konnte sie mehr in ihrem Beruf aufgehen, als hier unter den Menschen, deren Lebensbedingungen nicht gerade die besten waren. Schon allein das Zusammenpferchen von vielköpfigen Familien in ein oder höchstens zwei Räume trug dazu bei, daß ihre Anfälligkeit größer als anderorts war. Ganz zu schweigen davon, daß diese Menschen nicht mehr für ihre Gesundheit taten, als unbedingt nötig gewesen wäre.
    Am stärksten aber waren die Kinder dieser Gegend gefährdet. Dieser armen Kleinen hatte sich Sheila Longden besonders angenommen. War es auch anfangs schwer für sie gewesen, das Vertrauen der schwerarbeitenden Bevölkerung für sich zu gewinnen, so trug ihre finanzielle Bescheidenheit zum Schluß doch den Sieg davon. Gewiß, Sheila Longden war geldlich völlig unabhängig. Sie brauchte eigentlich überhaupt kein Honorar für ihre Bemühungen als Ärztin von ihren Patienten zu nehmen. Wenn sie aber trotzdem eine Rechnung hier und da ausstellte, dann tat sie es allein aus dem Grunde, um nicht ganz als selbstlose Wohltäterin angesehen zu werden. Sie wollte nicht wegen ihrer kleinen Forderungen, die sie stellte, sondern wegen ihres Könnens konsultiert werden.
    Daß Sheila Longden ihren selbstgewählten Beruf beherrschte, hatte sich im Laufe der sechs Monate, die sie nun

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