Im Schatten des Galgens Kommiss
Mister Howard Whitmen ist tot!"
Einen Augenblick nur dauerte es, dann hatte Sheila Longden die ganze Tragweite dieser Nachricht begriffen. Der in ihrer Hand befindliche Hörer begann plötzlich zu zittern. Ein Schütteln hatte ihren ganzen Körper erfaßt.
„Nein — nein!" brach ein Schrei über ihre Lippen, dem gleichzeitig ein tonloses Schluchzen folgte.
„Leider, leider, Miß Longden", kam leise die Stimme des Doc vom anderen Ende der Leitung. „Und ich habe nichts mehr für Mister Whitmen tun könne. Er war bereits tot, als ich in sein Zimmer kam."
Schien anfangs die ganze Welt für Sheila Longden einzustürzen, so fing sie sich nun wieder. Die Nachricht vom Tode F. Howard Whitmens, den sie fast mehr als einen leiblichen Vater geliebt und verehrt hatte, hinterließ eine tiefe Wunde in ihrer Seele.
Doch tapfer unterdrückte sie ihr Leid — und schon hatte sie ihre Stimme wieder so weit in der Gewalt, daß sie ruhig und verständlich sprechen konnte:
„Aber wie ist das möglich, Dr. Bringhmoors? Als ich heute morgen meinen Pflegevater verließ, fühlte er sich so frisch wie selten zuvor?"
„Ich stehe selbst vor einem Rätsel, Miß Longden. Aber wie auch Sie wissen, litt Mister Samuel Whitmen an einer gleichartigen Krankheit. Auch er fiel dieser schleichenden Blutzersetzung zum Opfer, die nun ebenfalls Mister F. Howard Whitmen dahingerafft hat."
Schon hatte Sheila Longden auf diese Erklärung Dr. Bringhmoors eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Sie war zwar noch eine blutjunge Medizinerin, aber eines war ihr inzwischen doch klargeworden, daß, sofern der Krankheitserreger nur ungefähr bekannt ist, es Mittel und Wege zur Genüge gibt, um den Zerfall des Blutes, wenn nicht ganz zu stoppen, so doch wenigstens gewaltig abzubremsen. Warum hatte Dr. Bringhmoors nichts dergleichen versucht. Warum nur immer diese schmerzstillenden Pulver — und sonst nichts weiter? Sheila Longden hatte zwar die Abneigung des Toten gegen jegliches Experimentieren gekannt. Auch war sie weit davon entfernt, Dr. Bringhmoors die alleinige Schuld am frühen Ableben ihres Stiefvaters zu geben. Doch bereute sie einmal mehr, sich nicht selbst mehr um die Gesundheit des Industriellen gekümmert zu haben. Auch sie hatte sich dem Wunsche F. Howard Whitmens gebeugt. Auch sie hatte genau das getan, was der langjährige Hausarzt Dr. Bringhmoors getan hatte. Beide waren sie nicht den Erfahrungen der Wissenschaft und Medizin gefolgt, sondern hatten über ihr Tun und Lassen F. Howard Whitmen bestimmen lassen.
Diese Erkenntnis zwang Sheila Longden zu schweigen. Aber um der Wissenschaft willen wollte sie nicht länger zusehen, wie gesunde Menschen innerhalb von wenigen Monaten durch diese, wie Dr. Bringhmoors sie bezeichnete, unbekannte Blutkrankheit dahingerafft wurden. Auf diesem Gebiete mußte schnellstens etwas geschehen. Noch während sie als Ärztin über diese heimtückische Krankheit sann, rief sie die Stimme Dr. Bringhmoors in die Wirklichkeit zurück: „Miß Longden, bitte wollen Sie es übernehmen und Bud diese erschütternde Nachricht überbringen. Er hat noch keine Kenntnis vom plötzlichen Ableben seines Vaters. Ich hatte zunächst an Sie gedacht."
Wie Sheila Longden an diesem Mittag aus ihrer Praxis in der Ratcliffe-Street herausgekommen war, wußte sie später nicht mehr genau zu sagen. Der plötzliche Tod ihres Pflegevaters: die ihr von Dr. Bringhmoors aufgebürdete, unangenehme Aufgabe, Bud Whitmen von dem Ereignis in Kenntnis zu setze, alles das trug dazu bei, daß sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Wie eine Traumwandlerin hatte sie die Fahrt von Stepney nach Kensington zurückgelegt. Hatte mehrere Minuten schweigsam am Totenbett des Hausherrn von Whitmen-Castle gestanden — und stand nun im Mitteltrakt des Gebäudes Dr. Bringhmoors gegenüber. War dies alles schon so erschütternd, so sollte es noch schlimmer kommen. Das Gesicht des Hausarztes sah grau und verfallen aus. Mit fahrigen Bewegungen strich er sich immer wieder über die durchfurchte Stirn.
„Miß Longden", nahm er das Gespräch mit der jungen Kollegin auf. „Sie haben sich Mister Whitmen doch genau angesehen. Bitte sagen Sie mir, daß ich mich nicht täusche. Sagen Sie mir, daß das Gesicht des Toten eine ganz normale Totenblässe hat und nicht . . . und nicht. . .“
Die Hände des alten Arztes begannen merklich zu zittern. Noch traute er sich nicht, den in ihm aufgestiegenen furchtbaren Verdacht auszusprechen. Auch Sheila Longdens
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