Im Schatten des Galgens Kommiss
blieb es still zwischen den beiden Männern in Morrys Office. Doch nicht lange, denn nach kurzem Anklopfen betrat Konstabler Tabler den Raum. Sein Blick glitt über die Gestalt Bud Whitmens — und nachdem er diesem kurz zugenickt hatte, meinte er zu Kommissar Morry gewandt:
„Sir, die Boys warten bereits unten in ihrem Fahrzeug auf Mister Whitmen. Kann er jetzt gehen? Außerdem könnten wir dann auch gleich, sobald Mister Whitmen gegangen ist, mit dem Verhör Mike Callingers fortfahren."
Mit keiner Miene verriet der Yard-Officer, was er in diesem Augenblick dachte.
Nur kurz sah er den jungen Whitmen an, dann meinte er:
„Sie sehen, Mister Whitmen, wir vom Yard sind alle sehr beschäftigt. Bitte, wollen Sie sich jetzt nach unten begeben, wo man bereits auf Sie zu warten scheint."
„Well!" kam Bud Whitmen auch sogleich der Aufforderung Kommissar Morrys nach und trabte an Konstabler Tabler vorbei zur Tür. Hier drehte er sich noch einmal kurz um und sagte mit belegter Stimme: „Sorry, das hätte ich beinahe vergessen, Kommissar. Haben Sie vielen Dank für die Zigarette."
Nachdem Bud Whitmen gegangen war, ließ Kommissar Morry erneut den Gangsterchef Mike Callinger vorführen. Das jüngste Ereignis hatte Morry auf einen sonderbaren Gedanken gebracht. Noch wußte er nicht, wieweit sich dieser Gedanke bewahrheiten sollte. Aber irgendwie fühlte er instinktiv, daß er von nun an auf der richtigen Fährte nach dem Manne war, der bisher noch ein großes Fragezeichen in seinen Akten war. Als er Mike Callinger wiederum in die Zange nahm, war ihm nicht mehr anzusehen, daß er die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte.
Mit unglaublicher Spannkraft begann er seine Netze auszuwerfen, in denen sich nicht nur Mike Callinger — sondern auch der große Unbekannte verfangen sollte. Eine mehr als gewagte Kombination hatte er auf gestellt. Jetzt ging er daran, diese Kombination auf das ,A‘ und ,0' zu überprüfen.
Und wie er es tat, war als einmalig zu bezeichnen. Es dauerte zwar noch Stunden — doch als der Tag sich neigte, war der Fall ,Whitmen- Castle' in die Endphase getreten.
*
Sheila Longden glaubte zunächst eine halbe Ewigkeit ohne Besinnung gewesen zu sein. Nur langsam wichen die Schleier von ihren Augen. Immer deutlicher vernahm sie, was um sie herum vorging. Wo sie sich nun befand, wußte sie nicht. Doch dieser Umstand ließ sie komischerweise ganz kalt. Sie fürchtete sich nicht, in einem fremden Bett zu liegen. Im Gegenteil, sie fühlte sich fast behaglich in dem, wenn auch einfachen, so doch sauberen Zimmer.
Auch verscheuchte sie nicht den Spuk aus ihrem Kopf, der ihr immer und immer wieder das Gesicht eines Mannes vorgaukelte. Ein Gesicht, das sie zu kennen glaubte, und doch nicht wußte, wo sie es unterzubringen hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich mit derartigen Gedanken beschäftigt, wie in den wenigen Augenblicken nach dem Erwachen aus der Betäubung. Darum war sie auch beinahe ärgerlich, als sie aus ihren Träumen gerissen wurde. Die zu ihrem Fußende gelegene Tür war geöffnet worden und hatte sie in die Wirklichkeit zurückgerufen.
Ihr Ärger verschwand jedoch im gleichen Augenblick wieder, denn das Traumgesicht stand nun leibhaftig vor ihrem Bett.
„Nun Professor, wie geht es Ihnen?" klang es freundlich aus dem Munde des Mannes ihr entgegen.
Schon wieder glaubte sie zu träumen. Erstaunt fragte sie: „Was haben Sie da soeben zu mir gesagt? Bitte wiederholen Sie das noch einmal!"
Prompt kam die Antwort Jean Embrokes: „Professor!"
„Nein, das kann doch nicht sein!"
Wie ein einziger Schrei kamen diese Worte über die Lippen des Girls.
„Das ist doch nicht möglich. Nein . . . nein, das ist nicht wahr", zitterte Sheila Longdens Stimme weiter.
„Es ist wahr, Professor!"
Jean Embroke war an das Bett herangetreten und streichelte nun behutsam den Arm der am ganzen Körper bebenden Frau. Was war hier vorgefallen? Warum regte es die gewiß nicht zimperliche Sheila Longden so sehr auf, daß Jean Embroke sie mit Professor' angesprochen hatte? Warum?
In den nun folgenden drei Stunden saßen zwei junge Menschen wie alte Bekannte zusammen, und wäre nicht die Hausfrau energisch dazwischengefahren, dann hätte ihr Erzählen und Erklären kein Ende gefunden. Nach einem herzhaften Abendessen, an dem sich die ganze Familie der Truros beteiligt hatte, wurde das bisher fröhliche Gesicht Jean Embrokes wieder ernst. Nur zögernd näherte er sich der mit der Hausfrau in der Küche
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