Im Schatten des Galgens Kommiss
schleiche ich mich wie ein Dieb hier herein und was finde ich . . . nur ein leeres Nest!'
Man konnte in diesem Augenblick, da Jean Embroke nach seiner verwegenen Klettertour vor dem leeren Bett des jungen Whitmen stand, nicht sagen, welcher Aufruhr in ihm tobte. Er war zum ersten Male, da er wieder in London weilte, der Verzweiflung nahe. So sehr entmutigte ihn sein Mißgeschick, den jungen Whitmen zu dieser Stunde nicht in seinem Zimmer anzutreffen. Und wieviel hatte er sich von diesem Unternehmen versprochen. Alles!
Jean Embroke mochte wohl ganze fünf Minuten regungslos am Bett Bud Whitmens gestanden haben, als wieder Bewegung in ihn kam. Mit dem Entspannen seines Gesichtes, ebbte auch allmählich sein Zorn wieder ab. Eine neue Gedankenkette machte sich in ihm Platz. Gleichzeitig schoß ihm eine heiße Blutwelle hoch, als diese Gedanken feste Formen annahmen.
„Ich Idiot!" stöhnte er wie unter einem körperlichen Schmerz auf.
„Warum habe ich bis jetzt nicht daran gedacht? Warum habe ich bisher immer nur den jungen Strolch im Auge gehabt — und nicht das Girl?"
Einen einzigen Herzschlag nur überlegte er seine plötzliche Eingebung, dann schritt er zur Ausführung einer Tat, die zunächst ganz den Anschein von Kidnapping hatte.
Was Jean Embroke nun unter dem Zwang einer inneren Macht durchführte, war nach den Buchstaben des Gesetzes nichts anderes als vorsätzlicher Menschenraub.
„Ich muß das Girl hier herausbringen! Sofort!" hämmerte es in seinen Schläfen.
,Ganz gleich, ob sie nun mitkommen will oder nicht. Sie muß einfach!'
Mit diesen Worten war für Jean Embroke der Entschluß gefaßt, Sheila Longden zu betäuben, um sie lautlos aus Whitmen-Castle herausbringen zu können.
Welchen Zweck Jean Embroke damit verfolgte, war zunächst der, daß er sich in der folgenden Nacht noch einmal in die Höhle des Löwen zu wagen gedachte, um jene Gespräch mit seinem Widersacher zu halten, das ihm in dieser Nacht versagt geblieben war. Wie dieses Gespräch dann auch auslaufen mochte, eines stand fest, Sheila Longden würde durch ihr etwaiges Dazwischentreten dieses Gespräch nicht stören können. Und noch einen anderen Grund, einen viel wichtigeren Grund hatte Jean Embroke, das Girl aus diesem Hause zu schaffen. Doch diesen Grund sollte erst der folgende Tag klären.
Im Laufe der nun folgenden Minuten spielte sich in Sheila Longdens Schlafgemach eine brutal erscheinende Entführungsszene ab. Die in ihrem Bett liegende Frau bemerkte nicht das Eintreten Jean Embrokes. Auch sah sie nicht, daß ihr Entführer Chloroform auf einen Wattebausch träufelte — und ihr dieses betäubende Zeug gegen die Nase drückte. Erst als sie durch irgendeinen Umstand vernahm, daß sich etwas in ihrem Zimmer regte, schlug sie die Augen auf. Doch da war es bereits zu spät.
Nur noch eines erkannte sie durch den dichten Schleier, der sich schon vor ihre Augen gelegt hatte: Der Mann, der über ihr gebeugt stand, hatte keine bösen Augen. Dies beruhigte sie so sehr, daß sie sich nicht einmal zur Wehr setzte. Sekunden danach breitete sich schon eine wohltuende Ohnmacht in ihr aus.
Kein Mensch sah den Mann, der auf seinen Händen eine leblos erscheinende Gestalt trug, und sich in Richtung des Parkes damit entfernte. Sheila Longden hielt Auszug aus ,Whitmen- Castle". Ihre Zukunft lag von nun an in den Händen Jean Embrokes.
*
Eine lange Nacht lag hinter Kommissar Morry und seinen Leuten. Als das erste Grau des anbrechenden Tages über London lag, machte Kommissar Morry eine erste Pause im bisher ohne Unterbrechung durchgeführten Verhör des Gangsters Mike Callinger.
Allzuviel hatte er noch nicht aus diesem hartgesottenen Burschen herauspressen können. Aber angeknackt hatte er die feste Schale Mike Callingers gehörig, so daß schon einige Kerne sichtbar geworden waren. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, und Mike Callinger würde umfallen. Würde so reden, wie es der Kommissar haben wollte. Wäre Kommissar Morry nicht so sehr auf die Zeit bedacht gewesen, dann hätte er sich gut und gerne mit dem momentanen Erfolg zufriedengeben können. Doch er war es nicht.
Zeit, und nochmals Zeit, das war es eben, was Kommissar Morry nicht hatte. Jede Minute schien ihm kostbar zu sein, konnte über Leben und Tod eines Menschen entscheiden. Schon lange hatte er herausgefunden, daß Mike Callinger seine Befehle von einem nur ihm bekannten Mann erhielt. Und der Name dieses Mannes war es, den er noch nicht wußte.
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