Im Schatten des Kreml
Herstellung einer Henne aus Gold und geschliffenen Diamanten, die einen Saphir-Anhänger in Form eines Eis aus einem Korb pickt...« Die Henne und der Korb mit dem Anhänger waren in einem größeren Ei versteckt, genau wie der Inhalt der anderen Kaiserlichen Ostereier. Fabergé legte dem Hofgesandten eine Reihe von Fragen vor, die mit Bleistift am Rand des Dokuments beantwortet wurden. Die erste Frage lautete: »Soll der Ei-Anhänger herausnehmbar sein oder soll er fest am Schnabel angebracht sein?« Die Antwort: »Er muss lose sein.«
Ich lege das Buch neben mich auf das Feldbett und denke gar nicht erst darüber nach, wie der Saphir-Anhänger ausgesehen haben mag, denn ich bin mir sicher, ihn fünf Stunden zuvor am Hals der Frau gesehen zu haben, die behauptete, eine der Geiseln im AMERCO-Gebäude gewesen zu sein.
Ich ziehe die zweiseitige Zusammenfassung von Filip Lacheks Laufbahn aus meiner Tasche und gehe sie durch. Für mich liest sich die trockene Auflistung von Jahreszahlen und Posten wie eine Seekarte, auf der gefährliche Untiefen, tückische Strömungen und Schiffbrüche grafisch dargestellt sind. Lachek hat die rauesten Meere sowjetischer und russischer Abenteuerpolitik durchschifft, und das länger als jeder andere, den ich kenne, mit Ausnahme des Generals. Afghanistan, Iran, Türkei, Tschetschenien und später Hongkong, Bangkok, Singapur und Jakarta – das Papier in meiner Hand könnte genauso gut durchtränkt vom Blut der Geschichten sein, die hier in wenigen Anschlägen festgehalten sind. Ich falte das Dossier zusammen, stecke es im Buch an die Stelle mit dem Hennen-Ei und stelle das Buch zurück an seinen Platz.
In der Edelstahloberfläche der Kochplatte begutachte ich die Brandwunden in meinem Gesicht. Über den wild funkelnden bronzefarbenen Augen wölben sich angesengte Brauen. Auf Nase und Wangen prangen blutrote Verbrennungen von der Explosion, die schwereren verkrusten bereits.
Vorsichtig trage ich noch etwas Salbe auf und ziehe mich dann aus, um dasselbe an Armen und Beinen zu wiederholen. Schließlich schnalle ich meine Prothese ab, ein Wunder aus Titan mit Karbonlegierung und Schnappverschluss, reibe meinen schmerzenden Stumpf und taste abwesend an der rauen Narbennaht entlang. Währenddessen denke ich über die Szene im Parkhaus nach und versuche, mir die in Blut geschriebenen Zahlen zu erklären. Vielleicht müssen wir die Dechiffrierungs-Experten des Generals hinzuziehen, aber eigentlich glaube ich das nicht. Ich denke, dass die Zahlenfolge deutlich zu verstehen sein soll, zumindest für diejenigen, für die sie bestimmt ist, genauso wie die übel zugerichteten Toten in keinster Weise eine subtile Botschaft darstellen.
Als ich das Licht ausmache und mich auf dem Rücken in mein Bett lege, bin ich keinen Schritt weiter. Ich weiß nur so viel: Bei dem Mord an Dubinin ging es um mehr als um eines der Kaiserlichen Ostereier. Wer auch immer ihn auf diese Weise getötet hat, kannte ihn. Hatte eine gemeinsame Vergangenheit mit ihm. Ich frage mich, wie viele andere diese Vergangenheit noch teilen und dasselbe Schicksal erwarten wie den Hauptmann.
9
Lange Schlafperioden sind mir verwehrt. Die Toten und die Sterbenden verfolgen mich in meinen Träumen. In den Jahren, in denen wir zusammen waren, lag Valja an meiner Seite unter der Decke, die Haut fiebrig, als brenne in ihr die Flamme der Leidenschaft – für das Leben, die Liebe, das Geschenk, zusammen zu sein. Ihre Wärme betäubte mich und half mir, die hässlichen Erinnerungen zu verdrängen. Jetzt bin ich froh, wenn ich mehr als zwei oder drei Stunden lang ohne Albträume verbringe. Diesmal sind es vier, es ist also eine gute Nacht.
Auf den frühmorgendlichen Straßen ist es ruhiger als sonst. Die Leute bleiben wahrscheinlich zu Hause, aus Angst vor einem weiteren Anschlag. Ich nehme die Metro und trotte zu einem Lagerhaus, umgeben von in die Luft ragenden Kränen am Ufer der Moskwa, von wo aus ich meine Geschäfte mit Pornografie und Datendiebstahl betreibe. Ein jugendlicher Wachtposten tritt beiseite, während ich mir mit einer Plastikkarte Einlass verschaffe. Drinnen ist es dunkel und still, seltsam verlassen. Es werden keine Filme gedreht, keine Video-Performer sind im Einsatz, keine pickligen Teenager-Cyberpunks oder traurige Babuschkas durchkämmen das Internet auf der Suche nach neuen Identitäten. Ich stehe noch in der Nähe des Eingangs, als ich eine Bewegung wahrnehme.
»Hallo, Alexei«, begrüßt mich Alla Anfimowa und
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