Im Schatten des Kreml
Krieg schicken, ohne Fingerabdrücke, Röntgenbilder des Kiefers oder DNA-Proben zu nehmen, und warum wir zulassen, dass im Rostower Leichenschauhaus anonyme Tote angehäuft werden. Dünne Sonnenstrahlen durchschnitten die Kacheln unter einem Fenster, hinter dem schmutziger Schnee lag. Staubpartikel tanzten durch das spärliche Licht, das durch die Scheiben hereinfiel.
Nach einer Weile legte sie das Taschentuch beiseite. »Es war Sommer, als ich dort hinfuhr«, sagte sie, so leise, dass ich meinen Stuhl näher heranrücken musste. »Draußen war es heiß, drinnen war es kalt. Überall lagen Leichen – auf Holzplatten, in Fächern, in Kühlwagen gestapelt. Ohne Köpfe, Arme, Beine.«
Ihr Mund arbeitete, als versuche sie, genug Spucke zu sammeln, um weitersprechen zu können.
»Sein Körper war verwest. Er hatte keine Finger mehr – Hunde, erklärten sie mir. Aber ein bisschen von dem, was man ihm angetan hatte, war noch...«
Ihre Stimme verlor sich. Die Falten in ihrem Gesicht bildeten tiefe Schluchten und Schatten, wie bei einer alten Bauernfrau auf einem Gemälde von Repin. Ich warf einen Blick in ihre Akte. Dort stand, dass sie achtunddreißig war.
»Seine Augen waren nicht mehr da. Pierausgeschnitten. Ohren und Nase abgetrennt. Die Lippen mit Garn zusammengenäht. Ich habe ihn nur an einem Muttermal auf der Brust erkannt, sein Vater hatte dasselbe.«
Ich sah den Staub durch die Sonne wirbeln und dachte, dass es einfacher wäre, jeden einzelnen der Vermissten ausfindig zu machen, als dieses Grauen zu erklären.
Sie reichte mir ein Foto, Tränen traten in ihre Augen. Aber ihr Blick wich meinem nicht aus. Sie hielt mich gefangen in ihrem Schmerz und zwang mich, das Bild anzusehen. »Er war ein hübscher Junge, sehen Sie das? Er hatte ein gutes Herz. Und er hatte es nicht verdient, dass ihm dort etwas so Schreckliches passiert.«
Es war ein Foto von seiner Abschlussfeier, nur Kopf und Schultern waren porträtiert. Er sah genauso aus, wie sie ihn beschrieben hatte, mit braunen Augen und weichen Zügen. Aber was mir in diesem Moment in den Sinn kam, weniger als einen Monat, nachdem man mich aus dieser Hölle geholt hatte, war, dass ihr geliebter Sohn, der in einem schmutzigen Krieg in Tschetschenien gekämpft hatte und dort gestorben war, vielleicht nie wieder derselbe junge Mann gewesen wäre.
Als ich aus dem Parkhaus komme, stehe ich im Neonlicht vor einem der Casinos und halte ein illegales Taxi an. Ich setze mich auf den Beifahrersitz, rufe Golko an und trage ihm auf, in den Akten nach dem Namen des verstümmelten Jungen zu suchen. Er scheint überrascht, so schnell von mir zu hören, und ich stelle mir vor, wie er mit seinem Bleistift ein Fragezeichen auf seinen Notizblock kritzelt. Aber nachdem ich ihm erzählt habe, wie die Mutter damals den Zustand ihres Sohnes beschrieb, sagt er, »Oh«, und erklärt, er werde sich sofort darum kümmern.
Mein Fahrer ist sehr gesprächig. Er arbeitet für ein Luftfahrtunternehmen. Seine Frau findet, er verbringe zu viel Zeit dort. Seine Teenager-Tochter zieht sich an wie eine Prostituierte, wie die weiblichen Popstars im Fernsehen. Als wir auf die M10 kommen, schaltet er einen Gang hoch und wirft einen Blick auf den Kolben der Sig, der unter meinem Mantel hervorguckt.
»Sind Sie Polizist?«
Ich sehe aus dem Fenster auf eine Betonwüste aus Hochhäusern. »Wissen Sie, warum Polizisten immer zu dritt unterwegs sind?«
»Nein.«
»Sie haben sich spezialisiert. Einer kann schreiben. Einer kann lesen. Und der Dritte passt auf die beiden gefährlichen Intellektuellen auf.«
Er lacht nervös und traut sich nicht, seine erste Frage noch einmal zu stellen. Aber in gewisser Hinsicht habe ich sie schon beantwortet, jedenfalls für mich. Ich bin eher Polizist als der pavianartige Kommandant, der sich mit Golko angelegt hat. Im Gegensatz zu ihm werde ich alles tun, um herauszufinden, wer Dubinin getötet hat, und warum.
8
Ich steige in der Innenstadt aus und laufe die letzten Blocks bis zu Vadim’s Café am Rand des Kitaj-Gorod-Viertels, wo ich mein Büro habe und seit einiger Zeit auch ein Feldbett. Das Café ist nur ein paar Straßen von den roten Backsteinmauern des Kreml entfernt, nicht weit von meinem alten Loft, aber doch weit genug, um die alten Geister auf Abstand zu halten. Ich habe nur noch wenige Male unter den hohen Decken des komfortablen Lofts geschlafen, nachdem ich mich von Valja verabschiedet hatte und kurze Zeit später feststellen musste, dass jeder
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