Im Schatten des Kreml
fügt er schroff hinzu.
Selbstverständlich war das möglich. Männer wurden quer durch Tschetschenien gekarrt, häufig ohne offiziellen Befehl. Überall gab es skrupellose Offiziere, von denen einige so weit gingen, dem Feind Lebensmittel, Informationen und Waffen zu verkaufen. Fast alles war möglich.
»Was hat das mit Dubinin und dem Ei zu tun?«
»Dubinin wurde unterstellt, in die Sache verwickelt zu sein.«
»War er es?«
»Wie kann die Rede von ›Verbrechen‹ sein, wenn wir es mit einem Abschaum zu tun haben, der unsere Kinder und Frauen in die Luft jagt? Sich unter Zivilisten versteckt und deren Kinder als Schutzschild benutzt? Außerdem ist ganz Tschetschenien voll von liberaler Presse, die Russland als die Bösen und unsere Feinde als die Guten darstellt. Ein Vorfall wie dieser bliebe nicht lange geheim.«
Das sind die Standardantworten, die wir jedes Mal geben, wenn wir ein Blutbad vertuschen wollen. Mit anderen Worten, es sind keine Antworten. Ein Gemälde taucht vor meinem inneren Auge auf; ich habe es vor Jahren entdeckt, als ich als kleiner Junge in eine Ausstellung in der Eremitage mitgenommen wurde, aber ich sehe es immer noch gestochen scharf vor mir – eine Szene aus einem Schlachtfeld von Weresch-tschagin, es hieß Überraschungsangriff. Ich war wie hypnotisiert und so gebannt, dass ich vor Schreck fast aus den Stiefeln gehüpft wäre, als einer meiner Aufpasser aus der Besserungsanstalt, ein ehemaliger Soldat, mir auf die Schulter klopfte. Die nahezu fotografisch genaue Darstellung eines Zusammenstoßes im Turkestan des 19. Jahrhunderts erfüllte ihn mit nationalistischem Stolz. Aber was mich, den kleinen Jungen, begeisterte, war die ungezügelte Wildheit – nicht die der asiatischen Stammeskrieger, sondern die Blutrünstigkeit der Russen, die so anders war als die aufrechte übermenschliche Kraft meines legendären Helden, Ilja Muromez.
»Unsere Telefonistin muss sie verschreckt haben«, sagt der General. »Jedenfalls wollte sie nicht sagen, wo sie ist. Aber wir haben den Anruf zu einer Festnetznummer in einem Haus in Kitaj-Gorod zurückverfolgt. Geh sie suchen, rede mit ihr, finde heraus, was wirklich los ist.« Er nennt mir eine Adresse.
»Wie heißt sie?«
»Der Telefonistin hat sie gesagt, sie solle sie Charlie nennen.«
10
Nachdem ich aufgelegt habe, sehe ich mir einen Moment lang das Foto von der Kofferraumhaube an und versuche, die Zahlen mit dem, was der General mir erzählt hat, in Verbindung zu bringen. Dann räuspert sich Alla und erinnert mich daran, dass ich noch immer mit ihr und dem Mädchen in ihrem Büro sitze.
»Wer war das?«, fragt sie.
»Putin. Er will, dass ich in einen Ölkonzern investiere.«
»Wie viele will er noch mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen?«
Allein der Versuch, mich auf Putins Kosten herauszureden, lässt Alla sich unruhig umsehen. Unser Präsident hat den Ruf, überall gleichzeitig zu sein, genau wie Stalin.
Alla legt die Hände auf die Schultern des Mädchens und schiebt sie in meine Richtung, bis sie vor mir steht.
»Das ist Mei«, sagt Alla und dreht sie einmal um ihre eigene Achse, als wäre sie zu verkaufen.
Sie ist hellhäutig, wahrscheinlich irgendwo aus Nordchina her und schlank, aber kurvenreich. Eine dünne Pyjama-Baumwollhose mit heruntergerolltem Bund spannt sich von einem Hüftknochen zum anderen und lässt eine zwei Zentimeter breite Lücke zwischen dem Gummizug und ihrem flachen Bauch unter dem kurzen Top. Schimmerndes schwarzes Haar mit roten Strähnchen fällt über einen auf ihren Rücken tätowierten Drachen, dessen geschwungene Flügel die sanfte Rundung ihres Pos betonen. Obwohl sie noch vom Schlaf zerzaust ist, erkenne ich, wie gut sie sich vor der Videokamera oder im Studiolicht machen würde.
Als sie mir wieder frontal gegenübersteht, sieht sie mir direkt in die Augen. Sie scheint amüsiert über Alias Spielchen und über meine zögerliche Würdigung, und in diesem Moment ändere ich meine Meinung über sie: Das kalte Schimmern, das unter dem Schatten ihrer Wimpern hervorblitzt, warnt mich davor, sie zu unterschätzen.
»Maxim hat nach mir gefragt?«
»Nicht unter Ihrem Namen«, erwidert sie in gebrochenem Russisch. »Er wollte, dass ich dem Mann, der hier das Sagen hat, eine Nachricht überbringe. Alla erklärt, das seien Sie.« Ihr Lächeln reicht hoch bis zu den Augen, sicherlich nicht von Nachteil, wenn man im Sexbusiness arbeitet.
»Warum ist Maxim zu ihr gegangen?«, wende ich mich an Alla. »Er
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